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       # taz.de -- Corona und Klima: Mit zweierlei Maß
       
       > Warum bei Covid-19 der Ausnahmezustand herrscht und Staaten beherzt
       > handeln – aber nicht bei der Klimakatastrophe.
       
   IMG Bild: Gute Nachricht für das Klima: Leere am Flughafen Berlin-Schönefeld, 17. März
       
       Deutschland und andere Industriestaaten erlegen ihren Bevölkerungen und
       ihrer Wirtschaft ein Schockprogramm auf, um die Corona-Epidemie
       einzudämmen. Dabei werden Maßnahmen ergriffen, die ohne Beispiel in der
       jüngeren Geschichte sind: Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit und die
       Freiheit der Person werden suspendiert, ebenso das Grundrecht auf Asyl.
       Große Teile der Wirtschaft werden lahmgelegt.
       
       Vergleicht man diese Maßnahmen mit der Reaktion auf eine andere, weitaus
       schwerwiegendere Krise, die Bedrohung des Lebens auf der Erde durch
       Klimawandel und Artensterben, fällt ein deutlicher Kontrast ins Auge:
       Während sich die Staaten in der Corona-Epidemie als extrem handlungsstark
       erweisen und für die Gesundheit ihrer Bürger:innen auch auf kurzfristige
       Wirtschaftsinteressen keine Rücksicht nehmen, ist in der Klimafrage seit 40
       Jahren so gut wie nichts passiert. Forderungen nach wirkungsvollen
       Klimaschutzmaßnahmen werden regelmäßig mit dem Verweis abgeschmettert, dass
       man nicht in die Freiheitsrechte von Menschen und Unternehmen eingreifen
       könne. Kurzstreckenflüge verbieten? Unmöglich! SUVs in Innenstädten
       untersagen? Undenkbar! [1][Kohleausstieg bis 2025]? Gefährdet
       Arbeitsplätze! Fleischkonsum drosseln? Ökodiktatur! Autokonzerne zum Bau
       von öffentlichen Verkehrsmitteln umfunktionieren? Kommunismus!
       
       Doch angesichts des Virus ist plötzlich fast alles möglich: Finanzminister
       Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier haben öffentlich darüber
       nachgedacht, große Industriekonzerne vorübergehend zu verstaatlichen, um
       sie vor dem Kollaps zu bewahren. [2][Billionenschwere Rettungspakete]
       werden international auf den Weg gebracht, um die Wirtschaft vor dem
       Zusammenbruch zu bewahren – Geld, das für einen sozial-ökologischen Umbau
       angeblich nie da war.
       
       Dieser Kontrast ist umso seltsamer, als die Corona-Epidemie selbst nach den
       düstersten Prognosen um vieles weniger tödlich ist als ein ungebremstes
       Klimachaos. Gewiss: In der Pandemie müssen wir Menschen schützen, vor allem
       die Risikogruppen. Aber warum gilt nicht das Gleiche für Klimaopfer? Wenn
       bei Corona das Vorsorgeprinzip gilt, dann muss es beim Klimaschutz ebenso
       gelten. Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Basis für eine Einschätzung
       der Gefährlichkeit von Covid-19 noch sehr dünn ist. Im Falle des Klimas
       liegen dagegen Jahrzehnte weltweiter Forschung vor, die übereinstimmend zu
       dem Schluss kommt, dass zu zögerliches Handeln Hunderte von Millionen
       Menschen gefährdet.
       
       Wie kommt es zu diesem Kontrast? Warum wird Covid-19 als eine Gefahr
       identifiziert, die es rechtfertigt, Grundsätze und unsere Grundrechte
       plötzlich über Bord zu werfen, während beim Klima seit Jahrzehnten nichts
       geht? Warum sind die Leben gegenwärtiger und künftiger Klimaopfer so viel
       weniger wert als die von Menschen, die durch Covid-19 gefährdet werden?
       
       ## Langfristiges Problem, kurzfristig ausgerichtete Politik
       
       Die erste Antwort darauf ist relativ naheliegend: Klimakatastrophen sind
       ein langfristiges Problem, während unsere politischen Systeme kurzfristig
       ausgerichtet sind. Wenn ein Drittel von Bangladesch in einigen Jahrzehnten
       überschwemmt sein wird, wenn große Teile des Mittleren Ostens und Afrikas
       durch Überhitzung nicht mehr bewohnbar sein werden und wenn auch die
       deutschen Wälder vollends vertrocknen, dann sind fast alle Politiker, die
       heute die Weichen stellen (oder eben nicht stellen), längst nicht mehr im
       Amt.
       
       Die zweite Antwort reicht tiefer. Die Opfer des Klimachaos sind vor allem
       die ärmsten Menschen auf der Erde, insbesondere im Globalen Süden. Das
       Corona-Virus dagegen macht vor den Schranken von Klasse und Nationalität
       nicht Halt. Auch reiche weiße Männer in den Industriestaaten sind
       gefährdet. Während Kameras rund um die Uhr Bilder von
       [3][Corona-Intensivstationen] senden und uns ein Gefühl von Weltuntergang
       vermitteln, schert sich um die vielen Millionen Bewohner:innen des
       Mekong-Deltas, denen bereits jetzt das steigende Salzwasser ihre Ernten
       zerstört, kaum ein Mensch.
       
       Die Klimawissenschaft zeigt, dass die Industriestaaten in den nächsten zehn
       Jahren ihre Treibhausgasemissionen um 80 Prozent senken müssen, um eine
       Chance zu haben, global unter 2 Grad zu bleiben und weitere Kippunkte im
       Erdsystem zu vermeiden. Dazu braucht es einen raschen, tiefgreifenden Umbau
       unserer gesamten Ökonomie. Entscheidend wird dabei sein, wie die
       umfangreichen Rettungspakete für die Wirtschaft, die derzeit verhandelt
       werden, aussehen. Werden Industrien wie die Flugzeug- und die Autobranche
       gerettet, um danach ihr Business as usual fortzusetzen? Oder werden die
       Gelder benutzt, um die nicht zukunftsfähigen Branchen zu konvertieren?
       
       Warum zum Beispiel nicht für die Mitarbeitenden von Airlines massiv neue
       Stellen bei der Deutschen Bahn schaffen, wo in den vergangenen Jahrzehnten
       Hunderttausende Arbeitsplätze abgebaut wurden? Warum nicht Rettungspakete
       für Autokonzerne daran koppeln, dass sie ihre Produktion, so rasch es
       technisch geht, auf Ein-Liter-Autos, kleine Elektrofahrzeuge und vor allem
       öffentliche Verkehrsmittel umbauen? Warum nicht massiv in die öffentliche
       Gesundheitsversorgung investieren, die lange kaputt gespart und
       privatisiert wurde, und damit auch für weitere Pandemien sowie für kommende
       Hitzewellen gerüstet zu sein? Und warum nicht, wie einst unter dem New Deal
       in den USA, Einkommen- und Vermögensteuern für die Reichsten auf 70 Prozent
       und mehr erhöhen, damit sie ihren fairen Anteil am gesellschaftlichen Umbau
       leisten?
       
       All das ist keine Utopie. Aber es kann nur Wirklichkeit werden, wenn sich
       die Zivilgesellschaft aus der gegenwärtigen Schreckstarre befreit, um in
       die folgenreichen Entscheidungsprozesse der nächsten Wochen einzugreifen.
       Einen Shutdown der Demokratie darf es nicht geben. Im Gegenteil: Jetzt ist
       die Zeit des Handelns.
       
       29 Mar 2020
       
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