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       # taz.de -- Soziale Folgen von Corona: Kinder in der Krise
       
       > Die Maßnahmen gegen Corona treffen arme Kinder besonders. Und je länger
       > Schulen zu sind, desto mehr verfestigt sich die soziale Ungleichheit.
       
   IMG Bild: Arche Mitarbeiter bringt Familie Springer in Marzahn-Hellersdorf eine Lebensmittellieferung
       
       Berlin taz | „Ich mache mir große Sorgen um die Kinder in unseren
       Einrichtungen“, sagt Arche-Gründer Bernd Siggelkow. „Es gibt bei uns auch
       ohne [1][Corona-Krise] Familien, in denen es nicht genug zu essen gibt.“
       Bis zu 4.500 Kinder betreut und versorgt die Arche täglich. Doch letzte
       Woche musste das christliche Kinder- und Jugendwerk alle 26 Standorte auf
       unbestimmte Zeit schließen.
       
       Die Kinder unterstützen die Mitarbeiter aber weiterhin. „Wir verteilen
       haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel in die Familien“, sagt Siggelkow,
       „der Bedarf ist groß. Es fehlt an allem. Und es kommen täglich neue
       Familien hinzu.“
       
       Ein warmes Mittagessen ist für viele Kinder und Jugendliche in Deutschland
       nicht selbstverständlich. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut
       betroffen. Umso wichtiger sind die kostenfreien Mahlzeiten, die Schulen,
       Horte, Kindergärten und Jugendzentren anbieten. Doch mit ihrer Schließung
       im Zuge der Corona-Krise fallen diese wichtigen Glieder in der
       Versorgungskette weg.
       
       „In Deutschland verhungert kein Kind, aber Kinder werden vermehrt Hunger
       haben“, sagt Melike Yar von der Kinderrechtsorganisation Save the Children.
       Die Ernährung werde in vielen Fällen einseitig und wenig abwechslungsreich
       sein. „Und das gemeinsame Essen als soziales und kommunikatives Element
       wird in sozial benachteiligten Familien oft unter den Tisch fallen.“
       
       ## Tafeln machen zu
       
       Es sind vor allem geringverdienende Eltern ohne finanzielle Rücklagen,
       [2][die derzeit unter Druck geraten.] Und der wächst täglich. Über
       zweihundert Tafeln haben wegen der Ausbreitung des Coronavirus ihren
       Betrieb vorübergehend eingestellt, andere haben einen Notbetrieb
       eingerichtet. Für eine halbe Million Kinder und Jugendliche, die als Kunden
       bei den Tafeln gemeldet sind, bleibt das nicht folgenlos.
       
       „Die finanzielle Ausstattung von Hartz-IV-Empfängern mit Kindern im
       Haushalt war auch vor der Corona-Krise schon schlecht“, sagt
       Sozialwissenschaftler Marcel Helbig, Professor für Bildung und soziale
       Ungleichheit an der Universität Erfurt. „Wenn die Tafeln wegfallen und
       dadurch Versorgungsengpässe entstehen, zeigt das also ein grundlegendes
       Problem. Die Tafeln sollen schließlich nicht die Grundversorgung der
       Menschen abdecken.“
       
       Wie groß die Auswirkungen der Corona-Krise am Ende seien, hänge auch von
       der Dauer der Schließungen ab. Flächendeckende Versorgungsschwierigkeiten
       erwartet der Sozialwissenschaftler nicht. Er sehe aber große Probleme in
       Hinblick auf die Arbeitsplatzsicherheit von Menschen, die in
       niedrigqualifizierten Bereichen arbeiten. „Also jenen Menschen, die ohnehin
       große Probleme haben, ihr Leben zu finanzieren.“
       
       „Wir stehen vor einer noch nie dagewesenen Situation, und keiner weiß, ob
       sich der Zustand nach den Osterferien normalisiert oder noch Monate
       anhält“, sagt Uwe Kamp, Sprecher des Deutschen Kinderhilfswerks. Diese
       Unwissenheit sorge bei vielen einkommensschwachen Familien für große
       Unsicherheit. „Wenn die kostenfreien Mittagessen wegfallen und gleichzeitig
       eine gesicherte Versorgung über die Tafeln nicht mehr möglich ist, muss der
       Staat eingreifen und kurzfristig für Lösungen sorgen“, so Kamp.
       
       ## Der Druck steigt
       
       Und der Staat handelt: Am Montag hat das Bundeskabinett ein
       [3][Sozialschutzpaket beschlossen], das am Mittwoch im Bundestag
       verabschiedet wurde und bereits am kommenden Sonntag in Kraft treten soll.
       Das soll Menschen den Zugang in die Grundsicherungssysteme vorübergehend
       erleichtern.
       
       Auch der Kinderzuschlag soll zeitweise an die krisenbedingte Situation der
       Familien angepasst werden. Doch Menschen, die sowieso schon von Hartz IV
       leben, hilft das nicht. Bei ihnen steigt der Druck, gerade jetzt, am
       Monatsende.
       
       Finanzielle Sorgen sind ohnehin ein großer Stressfaktor für
       einkommensschwache Familien. Doch nun bangen viele Eltern in prekären
       Arbeitsverhältnissen um ihren Job – und müssen gleichzeitig das
       Zusammenleben auf engstem Raum organisieren. Damit steigt der Stresspegel
       für die ganze Familie. „Unsere große Sorge ist, dass sich mit der Dauer der
       Isolation die häusliche Gewalt in den Familien erhöht“, sagt Melike Yar,
       „und die Kinder damit sowohl zu Beobachtern als auch zu Opfern häuslicher
       Gewalt werden.“
       
       Save the Children appelliert an den Staat, die sozialen Hilfen und
       Beratungssysteme aufrechtzuerhalten. „Es darf nicht sein, dass mit der
       Verringerung der Ansteckungszahlen die Zahl der Kinderschutzfälle steigt.“
       
       ## Ausgangssperren würden verschärfen
       
       Der Schutzauftrag des Jugendamts bestehe selbstverständlich weiter
       uneingeschränkt fort, sagt eine Sprecherin des Bundesministeriums für
       Familie, Senioren, Frauen und Jugend. In der gegenwärtigen Situation kämen
       Online- und Telefonberatungsangeboten eine ganz besondere Bedeutung zu.
       „Die dort tätigen Beraterinnen und Berater können aufgrund ihrer
       Fachkenntnisse professionelle Hilfe über Telefon oder im Wege der
       Onlineberatung bieten.“ Ob das ausreicht, werden die nächsten Wochen und
       Monate zeigen.
       
       Eines ist sicher: Restriktive Ausgangssperren würden die Situation weiter
       zuspitzen. Gerade Kinder aus einkommensschwachen Familien verbringen oft
       viel Zeit draußen. Zu Hause leben sie häufig in sehr beengten
       Wohnverhältnissen, teilen sich ihr Zimmer vielleicht mit Geschwistern.
       Allzu oft fehlt den Eltern eine Alltagsstruktur, gerade wenn sie selbst
       keiner Arbeit nachgehen. Einen Tag kindgerecht zu gestalten, könnte
       zahlreiche Eltern überfordern, warnt Save the Children.
       
       Auch an konzentriertes Lernen ist unter solchen Umständen kaum zu denken.
       Ein eigener Schreibtisch, ein Computer, Internetzugang – vielen Familien
       können sich diese Dinge schlichtweg nicht leisten. Damit haben die Kinder
       ungleich schlechtere Lernbedingungen, je länger sie zu Hause bleiben.
       „Studien aus den USA zeigen, dass lange Schulschließungen, die es dort
       aufgrund der bis zu dreimonatigen Sommerferien gibt, die sozialen
       Ungleichheiten vergrößern“, sagt auch Sozialwissenschaftler Helbig.
       
       Gut situierte Eltern können derweil Nachhilfelehrer organisieren,
       Übungsbücher kaufen oder ihre Kinder auf kostenpflichtigen Lernplattformen
       im Internet anmelden. Dafür fehlt einkommensschwachen Familien das Geld.
       Auch Flüchtlingsfamilien geraten unter zusätzlichen Druck. Sprach- und
       Verständigungsschwierigkeiten werden das Lernen zu Hause erschweren. „Zudem
       sind viele Flüchtlingsfamilien noch im Hartz-IV-Bezug“, sagt Uwe Kamp.
       
       ## „Solidarisch zusammenrücken“
       
       Deutschland hat es versäumt, die Schulen ans Netz zu hängen und digitales
       Lernen für alle Kinder zu ermöglichen. In den kommenden Wochen könnte die
       Beschulung zu Hause für etliche Eltern bereits an der Bereitstellung der
       Lehrmaterialien scheitern.
       
       „Wenn Schulen längerfristig geschlossen bleiben, sollte der Bund
       Sonderfonds für die Kommunen erwägen, um Bildungsprogramme für
       benachteiligte Kinder und Jugendliche zu finanzieren“, sagt Uwe Kamp. Auch
       könne der Staat beispielsweise mit den Betreibern von
       Online-Lernplattformen einen kostenlosen Zugang für Kinder im
       Hartz-IV-Bezug aushandeln.
       
       „Jetzt müssen alle solidarisch zusammenrücken und einen sehr wachen Blick
       haben, damit kein Kind zurückbleibt“, sagt Kamp. Nicht nur der Staat stehe
       in der Pflicht, auch Eltern, Schüler und Lehrer müssten wachsam sein, damit
       sozial benachteiligte Kinder nicht noch weiter abgehängt werden.
       Solidarität fordert auch Arche-Gründer Bernd Siggelkow. Von dem enormen
       Spendeneinbruch, den viele soziale Initiativen derzeit beklagen, ist auch
       die Arche betroffen.
       
       Die Hilfe für die Kinder einzustellen, ist für den Pastor jedoch keine
       Option. „Wir bleiben mit den Kindern per Whatsapp-Gruppen in Kontakt, rufen
       sie zweimal in der Woche zu Hause an, fragen, wie es ihnen geht und wie wir
       sie unterstützen können“, sagt er. Auch virtuelle Lernspiele, Livestreams
       und Hausaufgabenhilfen werden angeboten.
       
       „Und sollte es Ausgangssperren wie in Italien geben, werden wir
       Ausnahmegenehmigungen beantragen.“ Schließlich sollen die bereitgestellten
       Lebensmittel die Kinder irgendwie erreichen. Einen negativen Bescheid werde
       er nicht akzeptieren, sagt Bernd Siggelkow. „Dann machen wir trotzdem
       weiter.“
       
       26 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
   DIR [2] /Armut-in-der-Corona-Krise/!5670539
   DIR [3] https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/sozialschutzpaket.html;jsessionid=095C7F371DB33069E85CDD2E49218138
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kristin Kasten
       
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