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       # taz.de -- Warnung vor Epidemie in Syrien: Corona in Zeiten der Waffenruhe
       
       > Im syrischen Idlib schweigen die Waffen. Die Menschen strömen auf die
       > Straßen. Die WHO beginnt mit ersten Corona-Tests in der Rebellenprovinz.
       
   IMG Bild: Überall ist Corona Thema: Straßendesinfektion in der Stadt Kamischli in Nordostsyrien
       
       Berlin taz | Unermüdlich warnen Hilfsorganisationen, doch längst schon
       könnte eine Katastrophe nur noch schwer abwendbar sein. Im syrischen Idlib
       wurde bislang kaum jemand auf das [1][Coronavirus] getestet. Jetzt erst
       wurde mit ersten Tests begonnen, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
       am Mittwoch mitteilte. Dass das Virus den Nordwesten Syriens ausspart,
       würde an ein Wunder grenzen, auch wenn [2][Idlib weitgehend – aber nicht
       vollständig – von der Außenwelt abgeschnitten] ist.
       
       „Die Menschen hier unterschätzen Corona und kümmern sich nicht um das
       Virus“, sagt Suad al-Aswad aus Idlib-Stadt gegenüber der taz am Telefon.
       „Sollten Fälle auftauchen, wird es zu einer Katastrophe kommen, da es hier
       kaum Orte gibt, an denen man sich isolieren kann.“ Auch mangele es an
       medizinischem Personal. Viele Ärzt*innen und Pfleger*innen hätten den
       Dienst quittiert wegen der Bombardierungen von Krankenhäusern durch das
       syrische Regime.
       
       Und noch etwas begünstigt eine Ausbreitung des Virus: In Idlib und Teilen
       der angrenzenden Provinzen [3][gilt seit rund drei Wochen eine Waffenruhe].
       Die Türkei und Russland, die in der Region das Sagen haben, haben sich auf
       ein Ende der Kampfhandlungen verständigt. „Aufgrund des Waffenstillstands
       strömen die Menschen regelrecht auf die Straßen“, sagt al-Aswad, „die
       Märkte sind voller Menschenmassen und die Geschäfte sind sehr dicht
       gepackt.“ Desinfektionsmittel gebe es nirgends.
       
       Die WHO hat am Dienstag die ersten dreihundert Corona-Testskits über die
       türkisch-syrische Grenze in ein Labor in Idlib-Stadt geliefert. Mehrere
       Tausend sollen folgen. Zudem seien drei Krankenhäuser mit Intensivstationen
       und Beatmungsgeräten auf eine Ausbreitung des Coronavirus vorbereitet
       worden, wie ein Sprecher am Montag mitteilte.
       
       ## Beatmungsgeräte sind belegt
       
       Doch Hilfsorganisationen bleiben skeptisch: „Obwohl drei Krankenhäuser mit
       Intensivstationen identifiziert wurden, gibt es insgesamt nur 201 Betten
       und nur 95 Beatmungsgeräte“, sagt Misty Buswell von der Hilfsorganisation
       International Rescue Committee (IRC), der taz. „Die meisten Beatmungsgeräte
       werden derzeit verwendet, was bedeutet, dass ein Ausbruch von Covid-19 das
       Gesundheitssystem wahrscheinlich überwältigen wird.“
       
       In dem Rebellengebiet in Idlib und Teilen der angrenzenden Provinzen leben
       rund vier Millionen Menschen. Zum Vergleich: Der Stadt Berlin stehen bei
       einer Bevölkerung von rund 3,6 Millionen Menschen knapp 100 Krankenhäuser
       und mehr als 1.000 Beatmungsgeräte zur Verfügung (Stand Mitte März).
       
       Buswell plädiert für Hilfslieferungen, die über die Türkei nach Idlib
       gebracht werden könnten: „Dies umfasst nicht nur persönliche
       Schutzausrüstung – Masken, Handschuhe und andere Schutzgegenstände – für
       das medizinische Personal, sondern auch Medikamente und Ausrüstung, damit
       die Gesundheitseinrichtungen vorbereitet sind, wenn bei einer derart
       gefährdeten Bevölkerung Covid-19 ausbricht.“
       
       Mehr als eine Million Menschen wurden seit Dezember innerhalb des
       Rebellengebiets vertrieben, das das syrische Regime mit Unterstützung
       Russlands seit bald einem Jahr Stück für Stück von großteils islamistischen
       Aufständischen zurückerobert. Hunderttausende Vertriebene leben [4][laut
       UN-Angaben] in Zelten, unfertigen Häusern und zu Sammelunterkünften
       umgeformten Schulen oder Moscheen. „Mehr als zehn Familienmitglieder teilen
       sich ein Zimmer, und auch in den Zelten lebt oft eine ganze Familie“, sagt
       al-Aswad.
       
       ## Ausgangssperre in Regimegebieten
       
       Am Sonntag hatte die syrische Regierung, die abgesehen vom Nordwesten und
       Nordosten des Landes den größten Teil des Staatsgebiets wieder unter ihre
       Kontrolle gebracht hat, die erste Infektion mit dem Coronavirus gemeldet.
       Am Mittwoch folgten weitere vier Fälle. Um eine Ausbreitung zu verhindern,
       ordnete sie laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana eine
       Ausgangssperre von 18 bis 6 Uhr an.
       
       Louay Yassin, Sprecher der Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer, geht davon
       aus, dass mehr Menschen im ganzen Land bereits infiziert sind. “Die
       Dunkelziffer dürfte weit höher liegen“, teilte er mit. Denn auch in den
       Regimegebieten seien bislang kaum Tests durchgeführt worden. „Das syrische
       Gesundheitssystem ist kaputt, es wird einer Pandemie niemals standhalten
       können.“
       
       Der Konflikt in Syrien geht in diesen Tagen in sein zehntes Jahr. In Idlib
       wie in anderen Regionen des Landes haben syrische Regierungstruppen und die
       russische Luftwaffe gezielt Krankenhäuser in feindlichem Gebiet
       bombardiert, so dass die medizinische Infrastruktur am Boden liegt. Nach
       Angaben der WHO wurden zwischen 2016 und 2019 knapp 500 medizinische
       Einrichtungen angegriffen, zwei Drittel davon in Idlib und Umgebung.
       
       Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels war die Stellungnahme
       des International Rescue Committee der IRC-Mitarbeiterin Kirsty Cameron
       zugeordnet. Wir haben die entsprechenden Stellen geändert.
       
       25 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746/
   DIR [2] /Hilfsarbeiterin-ueber-Corona-in-Syrien/!5671464
   DIR [3] /Treffen-zwischen-Putin-und-Erdoan/!5669853
   DIR [4] https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/recent-developments-northwest-syria-situation-report-no-10-12-march-2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jannis Hagmann
       
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