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       # taz.de -- Rücksichtslose Kampfjogger: Lasst mich durch, ich bin schnell!
       
       > Die im Laufen dargestellte Fitness ist ein Statement. Der Kampfjogger ist
       > der SUV unter den Fußgängern.
       
   IMG Bild: Jogger in freier Wildbahn. Einfache Fußgänger (rechts im Bild) werden da an den Rand gedrängt
       
       Die Frau ist vollkommen außer Puste. Sie trägt die bunte Funktionskleidung
       der Läuferinnen. Breitbeinig steht sie da, wobei der Ausdruck „stehen“ in
       die Irre führen könnte, denn ihre Hände hat sie auf ihre Knie gestemmt. Ihr
       Atem geht stoßweise. Offensichtlich ist sie die Treppen hochgerannt, die
       aufs Dach des Hochbunkers im Berliner Volkspark Humboldthain führen, wo
       einst 16-Jährige im Himmel über der Stadt nach alliierten Bomberflugzeugen
       Ausschau hielten, um sie abzuschießen.
       
       Die Frau hat es bis ans Ende der Treppe geschafft. Sie steht nicht mitten
       im Weg, aber den einen Schritt zur Seite, der für alle anderen freie Bahn
       [1][mit 1,50 Meter Sicherheitsabstand] bedeuten würde, den hat sie nicht
       mehr gemacht.
       
       Für Passanten, die nach unten wollen, gibt es nun vier Möglichkeiten: 1.
       Nase zu und durch. 2. Abwarten und Mitleid spüren (nein, keine Empathie,
       das ist nicht nur nicht dasselbe, sondern was ganz anderes, das führt hier
       jetzt aber zu weit). 3. Einen anderen Weg nehmen. 4. Locker bleiben und auf
       jene Infektiologen vertrauen, die den nicht unbegründeten Verdacht äußern,
       dass unsere Gesellschaft ohnehin längst in einem viel höheren Maß als
       angenommen durchinfiziert ist.
       
       Immerhin ist es möglich, sich angesichts der schwer atmenden, aber an Ort
       und Stelle verharrenden Läuferin zu entscheiden, was man nun lieber tun
       möchte. Anders verhält es sich mit Kampfjoggern, die, haben sie sich erst
       einmal in Bewegung gesetzt, in den Parks und auf den Gehwegen den idealen
       Vektor ihres Laufs unbeirrt verfolgen. Sie schauen beim Laufen nicht nach
       links und nicht nach rechts. Wie raketengetriebene Wunderwaffen ziehen sie
       ihre Bahn durch die Welt. Wenn sie eng an Spaziergängern vorbeirauschen,
       spüren diese den Windhauch einer überlegenen Lebensform. Ausweichen ist
       fast unmöglich. Wir müssen diese Läufer erdulden wie eine Strafe Gottes.
       Sie sind [2][die SUVs] unter den Fußgängern.
       
       ## Optimiere dich selbst, lautet der biopolitische Imperativ
       
       Anthropologisch gesehen ist der Mensch ein Läufer. Ganze Theorien der
       Menschwerdung befassen sich mit unserer Fähigkeit, viel zu schwitzen. Unser
       Vorfahr Homo erectus, so lautet die These von Daniel E. Lieberman, hetzte
       sein Abendessen in den Hitzetod. Der Passant ist zwar kein Beutetier des
       Kampfjoggers, aber er fühlt sich so.
       
       Vor über 40 Jahren, als die postmoderne Laufbewegung begann, hatte das
       Laufen noch einen anarchistischen Touch. Es erscheint wenig erstaunlich,
       dass das Joggen in den neoliberalen 1980ern seinen Aufschwung nahm, auch in
       den durchgetanzten 1990ern nicht außer Mode geriet und als „Laufen“ nun so
       populär wie nie ist. Heute hat Laufen aber den Charakter einer
       Pflichtübung. Bleib gesund, halt dich fit, optimiere dich selbst, lautet
       der biopolitische Imperativ, der uns allerorten entgegenschallt. Oder, wie
       es [3][der Weltrekord-Marathonläufer Eliud Kipchoge] formuliert hat: „Nur
       die Disziplinierten sind im Leben frei. Undisziplinierte sind Sklaven von
       Stimmungen und Leidenschaft.“
       
       An dieser Stelle ist es aus Gründen der Differenziertheit angezeigt, den
       Kampfjogger von anderen Läufertypen zu unterscheiden. Dazu zählen die mal
       leicht übergewichtigen, mal nur nicht besonders athletischen Jogger, die
       eher langsam unterwegs sind. Oft machen sie kleine Schritte. Man sieht
       ihnen an, dass sie das Laufen nicht betreiben, um über sich
       hinauszuwachsen. Weder sammeln sie Daten über Körper und Route, noch
       besitzen sie irgendeinen Ehrgeiz, die eigenen Rekorde oder gar die anderer
       zu brechen.
       
       Sie haben vielleicht das Gefühl, sie bewegten sich zu wenig. Vielleicht
       möchten sie auch drei Kilo abnehmen. Diese Läufer sind sympathische
       Gesellen, weil sie auf bescheidene Weise die menschliche Unvollkommenheit
       repräsentieren.
       
       Ebenfalls nicht gemeint sind die in sich gekehrten, mönchischen Asketen.
       Sie laufen auf elegante, weil effiziente Weise weder zu schnell noch zu
       langsam, da sie gewohnt sind, größere Strecken zurückzulegen. Sie
       haushalten mit ihren Kräften und vermitteln den Eindruck, dass sie mit sich
       im Reinen sind. Diesen Menschen bei ihren religiösen Übungen zuzusehen,
       kann beim Betrachten eine innere Ruhe hervorrufen.
       
       ## Der Kampfläufer performt seine Haltung zum Leben
       
       Es gibt unter den Leistungsläufern, die nur aus Knochen, Sehnen und Muskeln
       bestehen, eine gewisse Herablassung den locker trabenden, ein bisschen zu
       dicken Amateurjoggern gegenüber. Das führt uns auf die Spur, was den
       Kampfjogger ausmacht, den man also womöglich besser als Kampfläufer
       bezeichnen sollte. Wie der Asket läuft der Kampfläufer nicht einfach, er
       performt seine Haltung zum Leben. Vor allem aber hat der Kampfläufer einen
       Plan und ein Ziel. Er betreibt etwas, das mit dem schönen alten deutschen
       Wort Ertüchtigung präzis beschrieben ist.
       
       Der SUV unter den Fußgängern hat anders als der Asket seinen Blick nicht
       nach innen gerichtet, weil er beim Laufen zu sich selbst kommt, sondern
       weil ihn die Verbesserung seiner Performance interessiert. Zugleich will
       der Kampfjogger aber auch in seinem optimierten Dasein wahrgenommen werden.
       Während der Asket beim Laufen oft unbemerkt bleibt, weil er nicht nur eins
       mit sich, sondern auch mit der Welt ist und also in ihr verschwindet wie
       ein Vogel, eine Maus oder eine Biene, projiziert der Kampfläufer mit jedem
       strammen, federnden Schritt seine optimierte Existenz hell strahlend in die
       Welt hinaus. Der Kampfläufer lässt sich nicht übersehen.
       
       Seine im Laufen dargestellte Fitness ist Selbstversicherung und Statement:
       Seht her, ich bin stählern. Ich bin gerüstet. Ich ertüchtige mich, weil ich
       tüchtig bin. Ich bin autonom und falle dem Gesundheitssystem nicht zur
       Last. Mein Körper ist Gegenstand meiner rationalen Lebensführung, so wie
       alles, was ich anfasse. Ich mache das, wozu ihr faulen Säcke euch nicht
       aufraffen könnt, weswegen es nur folgerichtig ist, dass ihr Hartz IV
       bezieht und ich mir demnächst eine Eigentumswohnung kaufen werde.
       
       Der Kampfläufer zweifelt nicht. Er weiß, was er tut. Was er einmal
       angefangen hat, führt er konsequent zu Ende. Davon hält ihn auch kein Virus
       ab.
       
       5 Apr 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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