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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Glamour-Boy auf dem Dorf
       
       > Michael Kratz lebt offen schwul in Sörgenloch bei Mainz. Er hat damit
       > kein Problem – und die anderen auch nicht. Dank Vereinsleben wird es
       > nicht fad.
       
   IMG Bild: Wohnt glücklich in seinem Geburtshaus: Michael Kratz
       
       Er ist 35 Jahre alt und schätzt das Dorf, in dem er aufgewachsen ist, die
       Vereine und die SPD dazu. Als kritischer Geist und offen Homosexueller ist
       er hier Avantgarde.
       
       Draußen: Michael Kratz wohnt in einem Mehrfamilienhaus am Ortsausgang von
       [1][Sörgenloch], einem Dorf mit knapp 1.300 Einwohner:innen in Rheinhessen.
       Unweit der Ortstafel liegt noch ein Bauernhof, dahinter stehen kahle
       Weinreben in der hügeligen Landschaft. Kratz wohnt ebenerdig am Rande der
       örtlichen Hauptstraße. Vor seinen drei Fenstern hängen eine Regenbogen-,
       eine Deutschland- und eine Europa-Fahne. Warum die europäische? „Weil es
       noch keine Weltflagge gibt“, sagt der 35-Jährige. „Die müsste eigentlich
       mal jemand erfinden.“
       
       Drinnen: Den Eingangsbereich, eine ehemalige Garage, zieren großflächige
       Plakate von James Bond, Marilyn Monroe und Kylie Minogue. Auf dem Boden
       liegt ein offener Musikkoffer, in dem eine Trompete liegt. Die Wohnung ist
       verwinkelt und voller Schätze: Eine goldene Krone und eine blondgelockte
       Perücke liegen wie vergessen neben einem Plüschhut in Fußballform. In der
       Küche fällt die Sammlung leerer Sektflaschen ins Auge, im Flur hängen ein
       Bündel Fastnachtsorden und eine Discokugel.
       
       Dorfleben: Kratz lebt „schon immer“ in diesem Haus; mit 17 Jahren hat er
       nur das Stockwerk gewechselt. Mit seinen Eltern und seiner Schwester samt
       Familie wohnen hier drei Generationen unter einem Dach. Auch mehrere seiner
       Onkel, Tanten und Cousins wohnen im Dorf. Kratz schätzt Sörgenloch für die
       Nähe zur Natur und die zahlreichen Vereine, bei denen man sich engagieren
       kann. Wenn er etwas trinken gehen will, fährt er in das 15 Kilometer
       entfernte Mainz. Der letzte Bus zurück nach Sörgenloch geht samstags schon
       um halb sieben, deshalb läuft Kratz nachts häufig aus dem besser
       angebundenen Nachbarort über die Felder nach Hause. „Ich würde auch gerne
       in Mainz wohnen, aber dann würde ich wahrscheinlich den Großteil meines
       Gehalts für Miete ausgeben“, meint er.
       
       Altenpflege: Seit zwölf Jahren arbeitet Kratz als Altenpfleger beim Roten
       Kreuz. Nach einer Ausbildung zum Bauzeichner mit 16 Jahren ist er durch den
       damals verpflichtenden Zivildienst zum Paritätischen Wohlfahrtsverband
       gekommen. „Da habe ich gedacht: Das ist eher etwas für mich, mit Leuten zu
       tun zu haben, als die ganze Zeit vor dem PC zu hocken.“ Kratz arbeitet
       gerne in der ambulanten Pflege, von Traumjob zu sprechen fände er
       angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen jedoch übertrieben. Er denkt
       nicht, dass er körperlich in der Lage sein wird, seinen Beruf bis zur Rente
       auszuüben.
       
       Corona: Unter den Senior:innen herrsche momentan große Unsicherheit. Kratz
       versucht, sie zu beruhigen: „Der beste Tipp ist: Nicht den ganzen Tag
       Fernsehen schauen. Es reicht, wenn man morgens Zeitung liest.“ In
       Sörgenloch haben die Aufrufe, Beschäftigten des Gesundheitswesens abends
       durch lautes Klatschen an den Fenstern zu danken, noch keine
       Nachahmer:innen gefunden. „Ich habe dazu auf Facebook geschrieben, dass man
       dann doch lieber um 21 Uhr Geldscheine vom Balkon werfen soll. Das würde
       mehr Sinn machen, glaube ich.“
       
       Kirchenaustritt: In Nicht-Corona-Zeiten hat Kratz ein dichtes
       Freizeitprogramm, das er gerne mit Vorlauf plant. Fix ist nur der
       Montagabend, die wöchentliche Orchesterprobe im alten Pfarrhaus. Noch
       lautet der offizielle Name: Katholischer Kirchenmusikverein, „aber das
       Orchester nabelt sich gerade etwas von der Kirche ab“. Sörgenloch wurde
       früher „Klein-Nazareth“ genannt und gilt noch heute als [2][Wallfahrtsort].
       Kratz ist „schon vor Ewigkeiten“ aus der Kirche ausgetreten, Anlass war der
       damalige Antritt von Papst Benedikt XVI. „Ich habe mich da eh nicht zu
       Hause, nicht vertreten gefühlt. Da ist man mit der Taufe drin, in diesem
       Verein, sag ich mal, und in andere Vereine geht man eigentlich nur rein,
       wenn man Interesse dran hat.“
       
       Vereinsleben: Stattdessen ist Kratz in weiteren fünf Sörgenlocher Vereinen:
       dem Partnerschaftsverein, der den Austausch mit der französischen Gemeinde
       Ludes in der Champagne pflegt, dem Karnevalsverein, dem Sportverein, dem
       Bürgerverein zur Dorferhaltung und Dorferneuerung und dem Ortsverband der
       SPD. In einigen ist er passives Mitglied, bei anderen hilft er mit
       organisatorischen Aufgaben, kauft Käse ein oder backt Kuchen. Außerdem
       sitzt er im Vorstand des Vereins [3][Schwuguntia], mit dem er seit 15
       Jahren den Christopher Street Day (CSD) in Mainz ausrichtet: „CSD
       Sörgenloch lohnt sich, glaube ich, noch nicht.“
       
       Queer: Kratz geht sehr offen mit seiner sexuellen Orientierung um. „Das war
       nie ein Problem hier. Ich habe das selbst immer als selbstverständlich
       gesehen, wahrscheinlich liegt es daran.“ In die Leute reingucken könne er
       aber natürlich auch nicht. Da er bei den Europawahlen bei der
       Stimmauszählung geholfen hat, weiß Kratz, dass es auch in Sörgenloch einige
       AfD-Stimmen gegeben hat.
       
       Glamour-Boy forever: Auf einem alten Party-Plakat posiert Kratz betont
       lässig in weißen Sportklamotten, über seinem Kopf steht „Glamour-Boy 2014“.
       Als Werbefigur für das [4][Partyformat] war er damals in sämtlichen
       Lokalblättern zu finden. „Ich bin quasi noch amtierend“, betont er.
       „Seitdem wurde nämlich nicht mehr gewählt.“ Kratz umgibt sich gerne mit
       Glamour, gratuliert auf Facebook regelmäßig Prominenten zum Geburtstag,
       darunter auch verstorbene wie James Baldwin oder aber Kylie Minogue und
       Meryl Streep. Vorbildfiguren seien sie für ihn.
       
       Sozialdemokratisch: Mit 16 Jahren ist Kratz, herangeführt vom Onkel, in den
       SPD-Ortsverein eingetreten. „Ich bin da reingewachsen, dachte, politisch
       engagieren ist nicht verkehrt. Mittlerweile weiß ich auch, dass es die
       richtige Partei für mich ist.“ Beruflich bedingt sind Kratz
       Arbeitnehmer:innenrechte besonders wichtig. „Das Sozial im Namen – das
       kommt halt auf Bundesebene nicht immer so durch, ist mir aber eigentlich
       das Wichtigste. Und Menschenrechte an sich. Alles, was mit Freiheit des
       Menschen zu tun hat.“ Bis vor Kurzem saß Kratz im Kultur- und
       Sozialausschuss, zurzeit ist er nur noch Stellvertreter. Bei den
       Kommunalwahlen 2019 war die SPD mit 37 Prozent zweitstärkste Kraft in
       Sörgenloch, gleich nach der Freien Wählergemeinschaft (FWG).
       
       Helauluja: Fastnacht ist für den gebürtigen Mainzer jedes Jahr ein
       wichtiges Ereignis. Er nimmt sich Urlaub dafür. Noch Ende Februar, kurz vor
       den Ausgangsbeschränkungen wegen Corona, war er fünf Tage durchgängig
       unterwegs – als Jedi-Ritter, Queen, und: Papst („Ich sehe es in dem Fall
       jetzt nicht als Hommage, sondern eher als, mhm … Witzfigur klingt jetzt
       auch blöd“). Nach drei Tagen habe es ihm eigentlich gereicht, jetzt im
       Nachhinein ist er jedoch „umso froher“, dass er durchgehalten hat:
       „Momentan ist ja nichts mit Feiern gehen oder so.“ Am Rosenmontag habe sich
       doch noch niemand vorstellen können, was da kommt. Neben dem Feiern und
       Verkleiden mag Kratz an Fastnacht vor allem die politischen Büttenreden,
       „wenn es lustig ist, aber trotzdem einen ernsten Hintergrund hat“. Wie die
       Rede des närrischen Sitzungspräsidenten von „Mainz bleibt Mainz“, der gegen
       die AfD und Rechte wetterte und auch die SPD aufs Korn nahm.
       
       Nazis: Im letzten Jahr sei bei der Kerb, der Kirmes, eine Art „Wandernazi“
       in Sörgenloch aufgetaucht, der betrunken Lieder über Blut und Ehre
       angestimmt habe. „Wie ein Rattenfänger, direkt neben der Kerbejugend“,
       meint Kratz. „Da ist mir der Kragen geplatzt. Das kommt nicht oft vor. Ich
       habe den gefragt, was er bezweckt, was das soll.“ Im Nachhinein habe er
       sich gefragt, was er da riskiert hat, denn für Diskussionen sei der Nazi
       nicht zu haben gewesen. Aber nichts zu sagen geht auch nicht, da ist sich
       Kratz sicher.
       
       Reichsbürger: Auf der anderen Seite von Sörgenloch, am Ortseingang, weht an
       diesem Nachmittag eine Reichskriegsflagge. „Eine Reichsbürger-Geschichte“,
       vermutet Kratz. „Da hängen immer verschiedene Fahnen, auch mal eine
       Tibet-Flagge, deswegen verstehe ich den Zusammenhang nicht. Ein
       Fahnensammler. Ich will jetzt nicht unterstellen, dass der nicht weiß, was
       das bedeutet, aber manchmal hat man schon das Gefühl: Bunt ist allerlei.“
       
       12 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.soergenloch.de/home/
   DIR [2] http://www.st-franziskus.net/
   DIR [3] http://schwuguntia.de/
   DIR [4] http://www.glamour-mainz.de/fotos.htm
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Henrike Koch
       
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