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       # taz.de -- EU in der Krise: Herrschaft durch Fairness
       
       > Die Coronakrise zeigt: Die EU braucht mehr politischen Wettbewerb und
       > eine reale BürgerInnenbeteiligung.
       
       Deutschland übernimmt im zweiten Halbjahr 2020 die
       [1][EU-Ratspräsidentschaft.] Aus der Sicht vieler Mitgliedsstaaten könnte
       der Zeitpunkt nicht besser sein. Denn damit erhöhe sich – so das Kalkül –
       das deutsche Interesse an einem erfolgreichen Abschluss und damit auch die
       Kompromissbereitschaft bei den Haushaltsverhandlungen. Die große
       Entschleunigung, die derzeit infolge der Bekämpfung der Corona-Pandemie um
       sich greift, bietet jedoch auch die Chance, grundsätzlich darüber
       nachzudenken, was nötig ist, damit die EU das leisten kann, wozu wir sie
       benötigen.
       
       Wie kann die EU also wieder handlungsfähig werden? Die Antwort auf diese
       Frage ist gar nicht so schwer. Die EU muss die Macht und die Kompetenzen,
       die seit den 1990er Jahren sprunghaft angestiegen sind, erfolgreich
       legitimieren. Dafür eignet sich aber weder der cäsaristische Stil des
       französischen Präsidenten noch die rein ergebnisorientierte Logik der
       deutschen Kanzlerin. Notwendig ist eine institutionelle Reform der EU, mit
       der glaubhaft vermittelt werden kann, dass die Entscheidungen Resultat
       einer fairen und entscheidungsoffenen politischen Auseinandersetzung sind
       und den Menschen in Europa nützen. Genau daran hapert es.
       
       Das Problem zeigt sich an zwei Indikatoren politischer Artikulation, die
       seit Anfang der 1990er Jahre in unterschiedliche Richtungen laufen. Zum
       einen ging die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament seit
       Anfang der 1990er Jahre zurück, obgleich seine Kompetenzen deutlich
       zugenommen haben. Erst bei der Europawahl im Jahre 2019 ist die Beteiligung
       wieder auf circa 50 Prozent angestiegen. Ausschlaggebend dafür war aber,
       dass nun die EuropagegnerInnen zur Urne gingen.
       
       Zugenommen hat aber die Politisierung der EU, verstanden als eine
       intensivierte politische Auseinandersetzung über Europa und deren Politiken
       in den Medien. Europäische Themen haben in der öffentlichen Debatte an
       Bedeutung gewonnen.
       
       ## Zunehmende Politisierung der EU
       
       Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass seit den frühen 1990er Jahren mit
       jedem Integrationsschub die Politisierung zugenommen hat. Diese Entwicklung
       begann mit der Ratifikation der Maastricht-Verträge 1992/1993, gefolgt vom
       Amsterdamer Vertrag 1997, der Osterweiterung im Jahre 2004, dem Scheitern
       des Verfassungsvertrags 2005 und schließlich, 2009, der Finanzkrise und der
       damit verbundenen Stärkung der europäischen Institutionen.
       
       Mit der Flüchtlingsdebatte und dem Brexit hat die EU schließlich einen
       Spitzenplatz bei den öffentlichen Themen erlangt. Europa ist zunehmend
       Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Im Ergebnis zeigt sich eine
       offene Schere zwischen dem Wunsch nach politischer Beteiligung, wie er in
       der Politisierung zum Ausdruck kommt, und den realen
       Beteiligungsmöglichkeiten.
       
       Politische Autorität wird in der EU durch das Zusammenspiel von drei
       institutionellen Säulen ausgeübt. Zum einen gibt es die supranationalen
       Institutionen, insbesondere die Kommission, den Europäischen Gerichtshof
       und die Europäische Zentralbank. Sie alle dienen häufig als
       Projektionsflächen für Kritik, welche die EU als eine herzlose und
       überbürokratisierte Angelegenheit porträtiert. Sie agieren aber zumeist
       gemeinwohlorientiert und rechtskonform.
       
       Bei der zweiten institutionellen Säule ist das nicht immer so. Der
       Europäische Rat kann sich zwar auf die Legitimation (mehr oder weniger)
       demokratischer Regierungen berufen, er hebelt, insbesondere in
       Krisensituationen oder bei Verhandlungsblockaden aber auch gerne die
       bürokratische und legale Logik der supranationalen Verfahren aus. Die
       dritte institutionelle Säule ist das Europäische Parlament mit beachtlichen
       Kompetenzen, aber geringer Anbindung an die WählerInnen.
       
       Politische Partizipation kann vor diesem Hintergrund kaum als
       Legitimationsgrundlage für die EU dienen. Die tatsächlichen Effekte eines
       gesetzten Kreuzes bei der Europawahl sind unklar. Es überwiegt stattdessen
       die technokratische Legitimation. Politische Entscheidungen mit starken
       (re)distributiven Effekten, wie etwa in der Finanzkrise oder auch im Falle
       der Agrar- und Strukturpolitik, und die Positionierung der EU bei
       wertebasierten Auseinandersetzungen überfordern aber technokratische
       Herrschaftsbegründungen.
       
       Sie können zwar bei der Identifikation von angemessenen Maßnahmen
       Legitimität stiften. Wenn die Ziele aber selbst Gegenstand der Politik
       werden, dann reichen sie nicht. Dann breitet sich der Verdacht aus, dass
       sie nur ein Deckmantel zur Durchsetzung der Interessen mächtiger Staaten
       und/oder kosmopolitischer Eliten in Europa sind.
       
       Die Legitimation der EU kann nur dann dauerhaft gelingen, wenn die
       europäischen BürgerInnen in der europäischen Integration einen sozialen
       Zweck erkennen und sie in die Lage versetzt werden, sich auch
       europapolitisch zu artikulieren. Das weitere Setzen auf Technokratie ist
       der bequeme, aber falsche Weg.
       
       Zum einen muss die EU ihre Bestandsbegründung an die sozialen Realitäten
       anpassen. Die Herstellung von Fairness in Europa ist eine davon. Ohne die
       EU kann es im Zeitalter der Globalisierung langfristig keinen europäischen
       Wohlfahrtsstaat geben. Wer, wenn nicht die Europäische Union, kann die
       globalen Unternehmen wie Apple und Google sowie die mobilen Superreichen in
       Zukunft noch besteuern?
       
       Ohne Kapitalsteuern und ohne die Besteuerung derjenigen Individuen, die von
       der Europäischen Integration besonders profitieren, wird der
       Wohlfahrtsstaat langfristig leiden. Solange es also keine effektiven
       Steuerregime auf globaler Ebene gibt, muss und kann die EU zumindest
       partiell diese Leistung erbringen. Das Narrativ lautet dann, dass die EU
       die Voraussetzungen für den Erhalt der europäischen Wohlfahrtsstaaten
       schaffen kann.
       
       ## Zusammenleben in einer garstiger werdenden Umwelt
       
       Wenn es dann noch gelingt, dringend notwendige Investitionsprogramme auf
       der europäischen Ebene zu koordinieren und in Krisen Solidaritätsprogramme
       aufzulegen, dann schwächt es die KritikerInnen, die die EU allzu gerne als
       neoliberales Programm karikieren. Hinzu kommt der zwingend notwendige
       Schutz der europäischen Idee des Zusammenlebens in einer garstiger
       werdenden Umwelt. Derzeit taugen weder die USA noch China zur großen
       Schwester. Europa muss für sich selbst stehen.
       
       Europa muss jedoch nicht nur wehrhaft, sondern auch streitbar werden. Es
       gilt, die Schere zwischen Politisierung und Wahlbeteiligung zu schließen.
       Demnach müssen die Artikulationsmöglichkeiten für europäische BürgerInnen
       gestärkt werden. Die Schere hat viel damit zu tun, dass es zwar die
       Parlamentswahlen gibt, dass aber die WählerInnen nicht den Eindruck haben,
       zwischen tatsächlichen Alternativen wählen zu können.
       
       Sie vergeben ihre Stimme an eine nationale Partei, die wiederum in
       [2][europäischen Parteienfamilien] zusammenarbeitet, deren politische
       Positionen im Wahlkampf unklar bleiben. Man kann wählen, kann aber nicht
       sagen, welches Kreuz welche europapolitischen Effekte hat. Der politische
       Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Programmen und Politiken muss auch
       auf der europäischen Ebene gestärkt werden und durch mehr politische
       Optionen, die zur Wahl stehen, kann den BürgerInnen eine Stimme gegeben
       werden.
       
       Was tun? Zum einen gilt es, die Debatte über die sogenannten
       SpitzenkandidatInnen in die richtige Richtung zu lenken. Wahlen sind nur
       dann Wahlen, wenn man mit vertretbarem Aufwand wissen kann, welcher Inhalt
       tatsächlich in einer „Verpackung“ enthalten ist. Es muss also von
       vornherein feststehen, wer genau für die Kommission kandidiert. Dabei kann
       es nicht um bloße Gesichter gehen, wie die bisherige Debatte nahegelegt
       hat.
       
       Es geht um die Positionen und Überzeugungen, die hinter den Gesichtern
       stehen, und um die verlässliche Übersetzung der mit einer Wahl verbundenen
       politischen Präferenz in die europäischen Entscheidungsverfahren. Erst dann
       kann eine Europawahl eine Wahl zwischen unterschiedlichen europäischen
       Positionen sein, und erst dann kann das Gefühl entstehen: „Ja, dieses Mal
       habe ich verloren, aber nächstes Mal kann ich gewinnen.“ Politischer
       Wettbewerb in den europäischen Institutionen ist dafür die institutionelle
       Grundvoraussetzung.
       
       ## Denationalisierung öffentlicher Debatten
       
       In letzter Konsequenz bedarf es daher transnationaler Wahllisten und der
       Vorabstimmung der europäischen Parteienfamilien auf ein Programm. Dann geht
       es zwangsläufig in den Wahlkämpfen nicht nur um das nationale Interesse
       oder um die Frage, ob die nationale Regierung abgestraft werden muss.
       Vielmehr müssen dann Argumente dafür vorgetragen werden, was der richtige
       Weg für Europa ist. Es geht dabei um eine Denationalisierung der
       öffentlichen Debatten. Auch muss der Europäische Rat in Zukunft darauf
       verzichten, im Nachhinein an Wahlergebnissen herumzudoktern.
       
       Es kann aber auch kaum abgestritten werden, dass es bei den „inkompletten“
       europäischen Verträgen immer Situationen geben kann, in denen schnelles und
       koordiniertes Handeln zwischen den Staaten oberste Priorität haben muss.
       Dafür muss es dann aber Verfahren jenseits der Selbstermächtigung
       geben, die gerichtlich überprüft werden können. Eine europäische
       Notstandsgesetzgebung würde den Anschein der Beliebigkeit abbauen und die
       mächtigen Mitgliedsstaaten zugleich formal ermächtigen und beschränken.
       
       Corona-Bonds oder ähnlich strukturierte Hilfen sind wohl das Gebot der
       Stunde. Die mittelfristige und größere Aufgabe ist es, ein
       Institutionensystem zu schaffen, das so viel Legitimation stiftet, dass
       auch [3][Solidaritätsmaßnahmen] breit und über Ländergrenzen hinweg
       akzeptiert werden.
       
       Die EU steckte schon einmal in einer tiefen Sinn- und Legitimationskrise.
       In den 1980er Jahren machte das Wort von der „Eurosklerose“ die Runde. Mit
       der Schaffung des EU-Binnenmarkts gab Europa damals eine beeindruckende
       Antwort und erwuchs wieder zu einer innovativen und dynamischen
       Wirtschaftsregion. Heute befindet sich die EU wieder an einer Weggabelung.
       Und wieder ist die Intensivierung von Wettbewerb die richtige Antwort.
       Dieses Mal geht es aber um die Ermöglichung des politischen Wettbewerbs.
       
       10 Apr 2020
       
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