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       # taz.de -- Opposition in Coronazeiten: Sauerstoff für die Demokratie
       
       > Gerade im Ausnahmezustand braucht es eine handlungsfähige
       > parlamentarische Opposition. Die muss ihre neue Rolle erst noch finden.
       
   IMG Bild: In Coronazeiten wenig benutzt: unterirdischer Verbindungstunnel im Bundestag
       
       Die liberale Demokratie braucht die Freiheitsrechte wie die Luft zum Atmen.
       In der Coronakrise jedoch leidet die Demokratie an Sauerstoffmangel.
       Wichtige Freiheits- und Partizipationsrechte dürfen im Ausnahmezustand der
       Pandemie nur eingeschränkt oder gar nicht praktiziert werden. Zu Recht
       beklagen Verfassungsrechtler deshalb die Einschränkungen.
       
       Die Versammlungsfreiheit ist de facto suspendiert. [1][Wirtschafts-,
       Bewegungs- und Religionsfreiheit sind stark eingeschränkt]. In Zeiten der
       SARS-CoV-2-Pandemie ist Deutschland eine Demokratie mit Defekten. Dabei
       bedarf es gerade im Ausnahmezustand einer handlungsfähigen
       parlamentarischen Opposition. Die Opposition jedoch muss ihre neue Rolle
       erst noch finden.
       
       Im Ausnahmezustand ist es für die Opposition schwer, sich kritisch zur
       Regierungspolitik zu verhalten. Unter Bedingungen der manifesten Bedrohung
       von Leib und Leben hat sich das politische System zu einer
       Superkonsensdemokratie gewandelt. Die Opposition wird viel stärker in die
       Pflicht genommen und lässt sich auch bereitwillig in die Pflicht nehmen, am
       Skript der Regierungspolitik mitzuschreiben.
       
       In den Bundesländern, denen eine große Bedeutung für die Pandemiebekämpfung
       zukommt, tragen fast alle Oppositionsparteien des Bundestags
       Regierungsverantwortung. In der Pandemie wird Deutschland von einer breiten
       [2][informellen Parteienallianz] regiert. Denn die Opposition unterstützt
       grosso modo die Entscheidungen der Großen Koalition zur Bekämpfung des
       Coronavirus.
       
       ## Neue Konsensdemokratie
       
       Die Superkonsensdemokratie führt zu einer krassen Veränderung der Funktion
       parlamentarischer Opposition. Im Normalbetrieb der parlamentarischen
       Demokratie bekleidet die Opposition eine Doppelrolle. Als Mitregent ist sie
       bei der Erfüllung aller Parlamentsfunktionen Wahl- und Abwahl,
       Gesetzgebung, Kontrolle und Kommunikation systematisch beteiligt. Prägender
       für das öffentliche Bild der Opposition ist ihre Rolle als Dissident. Hier
       ist die parlamentarische Opposition institutioneller Gegenspieler, deren
       Funktion darin liegt, Kritik zu äußern, die Regierung zu kontrollieren und
       Alternativen zur Regierungsarbeit zu entwickeln.
       
       Im Ausnahmezustand werden die Rollen Mitregent und Dissident gravierend
       verändert. Die neue Rolle im Krisenbündnis mit der Bundesregierung zeigt
       sich sowohl in der veränderten Kommunikation zwischen Regierung und
       Opposition als auch im Abstimmungsverhalten der Oppositionsparteien. Immer
       wieder wird in diesen Tagen seitens der Opposition gelobt, wie sehr die
       Bundesregierung um Konsenslösungen bei wichtigen Gesetzesbeschlüssen der
       Pandemiebekämpfung bemüht ist.
       
       Augenscheinlich wird die neue Konsensdemokratie am Beispiel der
       Novellierung des Infektionsschutzgesetzes. Das verfassungsrechtlich
       fragwürdige Gesetz wurde auch mit Stimmen der Oppositionsfraktionen durch
       den Bundestag beschlossen. Lediglich AfD und Die Linke griffen zum
       verschämten Mittel der Stimmenthaltung.
       
       ## In wenigen Tagen durch das Parlament
       
       In Zeiten der Superkonsensdemokratie ist für die Rolle des Dissidenten
       hingegen kaum Platz auf der Bühne. Mit Turboregieren wurde das
       Coronakrisenpaket innerhalb weniger Tage ins Parlament eingebracht und
       beschlossen, vom Bundesrat bestätigt, von der Bundeskanzlerin, dem
       zuständigem Bundesminister und schließlich vom Bundespräsidenten
       unterzeichnet, um im Bundesgesetzblatt verkündet zu werden. In Zeiten des
       Normalbetriebs des Bundestags dauert das Gesetzgebungsverfahren in der
       Regel ein Dreivierteljahr. Erfolge erzielt das Krisenmanagement auch in der
       öffentlichen Wahrnehmung. So befürworten 74 Prozent der Bevölkerung die
       Maßnahmen, die das Leben stark einschränken. 16 Prozent halten sogar noch
       härtere Regeln für notwendig.
       
       Wichtige Gründe, warum es dennoch eines institutionellen Gegenspielers
       bedarf, liegen im Janusgesicht des Krisenmanagements. Auf der einen Seite
       erweisen sich Regierung und Verwaltung angesichts der neuartigen
       Krisensituation in vielen Fällen als effizient. Andererseits verursacht das
       Regierungsmanagement Folgeprobleme. So ist nicht absehbar, bis wann die
       massiven Eingriffe in die Grundrechte zeitlich gelten. Zentrale
       Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse werden aus dem Parlament [3][in
       Expertenkommissionen der Regierung ausgelagert].
       
       ## Mindesabstand zu Regierung
       
       Angesichts der fundamentalen Eingriffe in das öffentliche und private Leben
       gelingt es der parlamentarischen Opposition nur unzureichend ihre
       Handlungsmöglichkeiten zu stärken. Gerade in der Coronakrise braucht die
       Opposition einen Mindestabstand zur Regierung. Dafür müsste sie die
       vernachlässigte Rolle des Dissidenten wieder ins Rampenlicht rücken und die
       drei Aufgaben der Opposition – Kritik, Kontrolle und Alternative –
       praktizieren.
       
       Erstens, Turboregieren verursacht Fehler. Diese zu kritisieren, ist primäre
       Aufgabe von Opposition. Zweitens, Opposition muss kontrollieren, ob die
       ergriffenen Notstandsmaßnahmen die unhintergehbaren Standards Demokratie-,
       Verfassungs- und Sozialverträglichkeit erfüllen. Dringend erforderlich ist
       drittens, dass die Opposition wieder politische Alternativen erarbeitet.
       Die Regierung ist dazu momentan kaum in der Lage. Das Regierungsmanagement
       ist im Ausnahmezustand auf situatives und kurzfristiges Regieren im Akkord
       programmiert.
       
       Dabei gilt das TINA-Prinzip: There is no alternative. Die Opposition hat
       eine andere zeitliche Taktung. Sie ist nicht zur Turbo-Opposition
       verurteilt. Im Gegenteil: Eine wichtige Aufgabe der Opposition liegt darin,
       gemeinsam mit der Zivilgesellschaft an Lösungen zu arbeiten, wie es
       weitergehen soll. Die Organisation eines über die sozialen Medien breit
       angelegten gesellschaftlichen Gesprächs über die Maßstäbe und Szenarien
       nach dem Ausnahmezustand wäre eine höchst lohnenswerte Aufgabe. Denn für
       die Opposition gilt nicht das TINA-, sondern das TAO-Prinzip: There are
       options!
       
       15 Apr 2020
       
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