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       # taz.de -- Linken-Politikerin über Soziale Berufe: „Wie unter einem Brennglas“
       
       > Probleme wie der Pflegenotstand können durch Corona nicht mehr länger
       > ignoriert werden, sagt Amira Mohamed Ali. Es sei Zeit für höhere Löhne.
       
   IMG Bild: „Hier geht es konkret um Menschenleben.“ Amira Mohamed Ali, Fraktionsvorsitzende der Linken
       
       taz: Frau Mohamed Ali, ist eine Debatte über die Rückkehr ins normale Leben
       verfrüht oder ist es sinnvoll schon mal darüber nachzudenken, wie es in den
       Alltag zurückgehen könnte? 
       
       Amira Mohamed Ali: Sinn der Maßnahmen ist, die Infektionszahlen zu drücken,
       damit die Krankenhäuser in der Lage sind, die schwer Erkrankten zu
       behandeln und das Gesundheitswesen nicht kollabiert. Darüber nachzudenken,
       nach welchen Parametern man nach Ostern die Einschränkungen zurückfahren
       kann, halte ich nicht für verfrüht. Aber entscheidend ist jetzt, dass die
       Maßnahmen ihre Wirkung entfalten. Niemandem ist gedient, wenn sie zu früh
       gelockert werden. Wir müssen jetzt erst mal abwarten und nach Ostern
       schauen, was es was gebracht hat und die Lage neu bewerten.
       
       Und wenn Schulschließungen und Kontaktverbote zu wenig gebracht haben? 
       
       Es ist doch völlig klar, dass man das öffentliche Leben nicht dauerhaft so
       stark einschränken kann. Darum denke ich auch, dass es wichtig ist, jetzt
       schon darüber nachzudenken, wie das öffentliche Leben nach dem 20. April
       wieder aufgenommen werden kann. Dazu muss man vor allem jetzt klären, wie
       ausreichend Schutzkleidung und mehr Testmöglichkeiten zur Verfügung
       gestellt werden können.
       
       Sollte die Lage nach Ostern dann ausschließlich nach medizinischen oder
       auch nach sozialen oder wirtschaftlichen Aspekten bewertet werden? 
       
       Aktuell geht es darum, dass die Infektionsraten gesenkt werden. Hier geht
       es konkret um Menschenleben. Wir müssen unbedingt eine Überlastung des
       Gesundheitswesens vermeiden, damit so viele Menschen gerettet werden
       können, wie möglich. Das muss der Fokus sein. Voraussetzung für eine
       Lockerung der Maßnahmen ist die Senkung der Fallzahlen.
       
       Gerade für Familien, die jetzt schon Hartz IV beziehen, ist die derzeitige
       Situation hart, weil sie von ihrem Regelsatz jetzt auch noch Mittagessen
       für dieKinder kochen und Arbeitsblätter ausdrucken müssen. Warum haben Sie
       als Opposition dem Sozialpaket der Regierung dennoch zugestimmt und tragen
       auch die Einschränkungen mit? 
       
       Wir haben dem Regierungspaket vergangene Woche weitgehend zugestimmt, weil
       die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind, viele wichtige und richtige
       Dinge enthalten, wie z.B. die Erleichterungen beim Zugang zu Hartz IV, die
       Aussetzung von Mietkündigungen und Stromsperren.
       
       Aber das reicht nicht. Gerade für Menschen, die jetzt schon Hartz IV
       beziehen, entstehen Mehrkosten, das haben Sie gerade beschrieben.
       Gleichzeitig fallen Zuverdienstmöglichkeiten weg. Und andere Hilfsangebote,
       auf die viele Menschen angewiesen waren, wie die Tafeln, mussten schließen.
       Wir fordern daher dringend Nachbesserungen am Paket, wie die sofortige
       Aufstockung in Höhe von 200 Euro für Menschen, die Arbeitslosengeld oder
       Grundsicherung beziehen.
       
       Die Linkspartei hat schon immer darauf hingewiesen, dass der
       Hartz-IV-Regelsatz zu niedrig ist. Auch den Pflegenotstand hat sie immer
       wieder angeprangert. Fühlen Sie sich nun in der Krise bestätigt: Seht her,
       wir hatten recht? 
       
       Es ist schon krass, wie Probleme, auf die wir immer hingewiesen haben,
       jetzt wie unter einem Brennglas vergrößert werden. Genugtuung kann ich
       angesichts des Ernstes der Lage darüber nicht empfinden, aber ich fühle
       mich in meiner Sichtweise bestätigt. Jetzt werden die Verwerfungen in
       diesem schlecht ausgestatteten Sozialstaat und dem kaputt gesparten
       Gesundheitssystem noch deutlicher sichtbar.
       
       Derzeit sieht es doch so aus, als wäre unser Gesundheitswesen besser als
       das anderer Länder? 
       
       Wir sehen an Ländern wie Italien, was passiert, wenn das Gesundheitswesen
       totgespart wird. Diese Entwicklung gibt es auch bei uns. In den vergangenen
       Jahren sind viele Krankenhäuser geschlossen worden, und die
       Arbeitsbelastung im Gesundheitswesen ist enorm gestiegen. Dort arbeiten
       Menschen schon lange am Limit. Erst im letzten Jahr forderte die
       Bertelsmannstiftung die Schließung weiterer 600 Krankenhäuser.
       
       Wir können von Glück reden, dass diese Forderung noch nicht umgesetzt
       worden war. Dass es derzeit bei uns glücklicherweise noch geringe
       Todesraten gibt, ist aber kein Grund zur Entwarnung, da die Fallzahlen
       weiter steigen und die Krankenhäuser auch bei uns schnell an ihre
       Kapazitätsgrenzen kommen können. Umso wichtiger ist es, jetzt dafür zu
       sorgen, dass zusätzliche Beatmungsgeräte produziert und
       Intensivbettenkapazitäten geschaffen werden.
       
       Kann [1][Corona] zu einer Trendwende führen, etwa zur besseren Bezahlung
       von Pflegekräften oder zu einem weniger bürokratischen Bezug von
       Grundsicherung? 
       
       Das ändert sich nicht von selbst und nicht automatisch. Das Sozialpaket der
       Bundesregierung ist befristet. Der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung
       für Menschen, die darauf angewiesen sind, ist vorläufig und kein
       grundlegender Richtungswechsel. Ein grundsätzliches Umdenken wäre aber
       wünschenswert. Und ich denke, jetzt ist die Chance für ein Umdenken in der
       Bevölkerung da.
       
       Hat das nicht schon eingesetzt? Alle klatschen doch fortwährend Beifall für
       das medizinische Personal, für VerkäuferInnen und alle, die als
       „systemrelevant“ gelten. 
       
       Derzeit empfinden ganz viele Menschen zu Recht Dankbarkeit und äußern sie
       auch. Aber das reicht nicht. Es ist essentiell wichtig, dass die Menschen
       in den systemrelevanten Berufen, die Pflegerinnen, die Verkäufer, die
       Kraftfahrerinnen, alle, die jetzt extrem viel leisten, auch finanziell
       besser gestellt werden und sofort einen Pandemiezuschlag in Höhe von 500
       Euro im Monat erhalten.
       
       Ich höre immer wieder von Pflegerinnen, der Dank ist ja schön, aber das
       bringt mir nicht viel. Dank darf sich nicht nur in Worten äußern. Und was
       nicht passieren darf, ist dass die Wichtigkeit dieser Berufe wieder
       vergessen wird, sobald die Krise vorüber ist. Eine Allgemeinverbindlichkeit
       der Tarifverträge muss für alle Beschäftigten in diesen Branchen jetzt ganz
       oben auf die Tagesordnung.
       
       Glauben Sie, dass diese Berufe nach der Krise tatsächlich besser bezahlt
       werden? 
       
       Ich glaube, dass jetzt die Möglichkeit besteht, hier etwas zu verbessern.
       Denn in der jetzigen Situation wird allen Menschen tatsächlich bewusst, wie
       wichtig diese Berufe sind. Und es wäre dann auch etwas Positives, was man
       der Krise abgewinnen kann, wenn sie dazu führte, dass Kürzungen im
       Gesundheitssystem zurückgenommen werden.
       
       Adidas, Deichmann und andere Großunternehmen haben angekündigt, während der
       Ladenschließungen [2][keine Miete für ihre Läden zu zahlen]. Muss das
       Gesetz, das Kündigungen wegen coronabedingter Mietschulden verbietet,
       nachgebessert werden? 
       
       Das Gesetz sagt, dass Mietzahlungen gestundet werden können, wenn
       coronabedingt die Mietzahlung nicht möglich ist.
       
       Eben, Adidas sagt, man müsse jetzt Kredite aufnehmen. 
       
       Hier zeigt sich doch mal wieder, dass es großen Konzernen nicht um
       Solidarität und Gemeinschaft geht, sondern darum, alles abzugreifen, was
       irgendwie geht. Adidas ist, glaube ich, vorsichtig zurückgerudert, aber es
       ist doch völlig klar, dass dieses Unternehmen, die Krise überstehen wird.
       Wenn das Gesetz die Möglichkeit offen lässt, dass es durch finanzstarke
       Konzerne missbraucht wird, muss diese Lücke geschlossen werden.
       
       1 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
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