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       # taz.de -- Wert und Werte der EU in Krisenzeiten: In der Pathosfalle
       
       > Nicht träumen, kümmern: Die EU-Fans müssen zu einem neuen Selbstbild
       > finden. Gerade Corona zeigt, was ohne sie vermisst würde: Freiheit,
       > Gemeinschaft.
       
   IMG Bild: Europa muss sich kümmern, konkret, schnell, findig
       
       Es tut weh, [1][die Straßburger Rede von Ursula von der Leyen] heute
       nachzulesen. Sie trat damals, am 27. November 2019, als Präsidentin der
       Europäischen Kommission an. Sie erinnerte an die Samtene Revolution in der
       Tschechoslowakei, wo die Glocken leuteten, die Sirenen heulten und wo die
       Menschen tanzten. Sie spannte den Bogen von den Sehnsüchten, dem Mut und
       dem Schmerz über Freiheit und Gerechtigkeit bis zu den konkreten Projekten:
       dem Kampf gegen den Klimawandel, aber auch gegen den Krebs. Die
       Freundschaft zwischen den Völkern Europas sei unzerbrechlich, sagte von der
       Leyen. Ihre Rede vor dem Europaparlament hatte Pathos, sie endete
       dreisprachig: „Vive l’Europe, es lebe Europa, long live Europe.“
       
       Von der Leyen hat schön geredet. Aber heute kann man nicht anders, als
       festzustellen: Sie hat Europa schöngeredet.
       
       Vier Monate später schockt den Kontinent die Coronakrise. Brüssel hat erst
       gar nicht gehandelt, dann schwerfällig wie ein rostiger Traktor.
       Deutschland verbot vorübergehend sogar den Export medizinischer Geräte in
       andere Länder des Binnenmarktes. Wohlhabendere EU-Mitglieder drückten sich
       vor der Zusage, zur Not für andere finanziell einzuspringen. Im
       Flüchtlingslager Moria auf Lesbos [2][leben mehr als 20.000 Menschen im
       Morast], obwohl es für 3.000 errichtet wurde; dass das Coronaviurs dort
       noch nicht grassiert: Glück. In Ungarn kürt das Parlament den
       Autoritärdemokraten Victor Orbán zum Herrscher. Notstandsgesetze erlauben
       ihm das Regieren per Dekret. Wer in der Presse berichtet, was Orbán
       missfällt, dem drohen bis zu fünf Jahren Haft.
       
       Die Enttäuschung über Europa ist groß. Mit dem Grund dafür sollten sich die
       Fans der EU befassen: Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der
       Kontrast zwischen Traum und Albtraum ist krass. Und nein: Das Problem haben
       nicht nur Politikerinnen, es ist auch eines der proeuropäischen
       Öffentlichkeit.
       
       Aber von der Leyens Rede und die Coronakrise: Dieser Absturz zeigt
       drastisch, dass Verfechter der EU immer wieder in die eine Falle laufen.
       Sie reden von Werten und Visionen, als seien die Vereinigten Staaten von
       Europa nicht weit.
       
       Die Versuchung ist verständlich: Je mehr Klein-Klein im Europäischen Rat,
       desto mehr möchte man gegenhalten mit großer Gemeinsamkeit. Je grauer der
       Alltag, desto leuchtender die Ziele. Die EU erhöht sich – und bleibt dann
       wieder unter Niveau. Tragisch.
       
       Ja, es ist ein Dilemma. Was passiert, wenn du zugibst, ein Technokrat zu
       sein? Dann bist du’s auch ganz und gar. Wäre nicht trotzdem weniger mehr?
       Wenn die EU nicht mit Versprechungen im Stil eines Markenartiklers
       aufträte, sondern im Bewusstsein einer Genossenschaft, die ihren
       Mitgliedern bei dem hilft, was sie nicht selbst können, und in der Einzelne
       nicht alles bestimmen.
       
       Vielleicht sind auch die alten Europäer ein Vorbild. Sie sahen im Kleinen
       das Große, statt das Kleine riesigzureden. Das war schon sehr viel, wie wir
       heute feststellen, wenn Grenzübergänge schließen, die es gar nicht mehr
       gab. Und die Integration der einstigen Diktaturen in Osteuropa ist doch im
       Grunde eine erstaunliche Erfolgsgeschichte.
       
       Auch Ungarn ist nicht Orbán, selbst wenn er genug Vollidioten gefunden hat,
       die ihn wählen. Die EU muss mit ihm ringen, [3][statt sich nur an einer
       Empörung zu berauschen], bei der einen der Verdacht beschleicht, Westeuropa
       spreche nur zu sich selbst. Erst diese Woche hat doch der Europäische
       Gerichtshof geurteilt, dass Polen, Ungarn und Tschechien 2015 [4][gegen
       EU-Recht verstoßen haben], als sie sich weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen.
       Im zweiten Schritt muss die EU nun Geldstrafen durchsetzen.
       
       Europa muss sich kümmern, konkret, schnell, findig. Dass Covid-19-Kranke
       aus Frankreich und Italien nach Deutschland geflogen wurden, ist gut,
       Brüssel könnte viel mehr davon organisieren. Und auch von der Leyens Plan,
       mit Kurzarbeitergeld europaweit Arbeitsplätze zu sichern, ist doch gut.
       
       Corona zeigt, was vermisst würde, wenn es dauerhaft fehlte: Die Freiheit.
       Die Arbeit. Die Gemeinschaft. Die Gesundheit. Europa sollte sich um das
       bemühen, was wir haben.
       
       3 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/president-elect-speech_de.pdf
   DIR [2] /Gefluechtete-in-Griechenland/!5674893
   DIR [3] /EU-kritisiert-Ungarn/!5676219
   DIR [4] /Urteil-zur-Fluechtlingsverteilung/!5673424
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Georg Löwisch
       
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