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       # taz.de -- Telefonieren wiederentdeckt: Hallo, wer spricht da?
       
       > Telefonieren erlebt in der Coronazeit eine Renaissance. Fernintimität
       > kann aber auch nach der Krise wertvoll sein.
       
   IMG Bild: Das Telefon hat eine spannungssteigernde Funktion in Alfred Hirchcocks Film: Bei Anruf Mord
       
       Man hatte es fast schon für tot gehalten. Doch die Coronakrise, die für so
       manche Kuriosität im zwischenmenschlichen Umgang sorgt, hat ihm zu einer
       ungeahnten Wiederentdeckung verholfen: dem Telefon. Da WhatsApp und
       Messenger-Dienst doch nur schwer fehlende soziale Kontakte ersetzen können,
       verabreden sich derzeit viele zum Telefonat, gediegen, auf dem Balkon mit
       einem Glas Wein an der Seite.
       
       Doch worin liegt dessen Rückkehr begründet? Was macht seine Aura des
       Besonderen aus? Was kann dieses klassische Sender-Empfänger-Medium gar
       möglicherweise besser als das hybride Wunderinstrument Handy?
       
       Im Gegensatz zu vielen anderen Kommunikationsmitteln verschafft es auf
       paradoxe Weise Nähe. Obwohl wir uns auf der anderen Seite der Welt befinden
       könnten, ermöglicht es, mit unserer Stimme und unserer Betonung mit dem
       anderen verbunden zu sein. Man könnte von einer „Fernintimität“ sprechen,
       die aus der Überwindung der Distanz hervorgeht.
       
       Dokumentiert ist das übrigens im Genre des Western, etwa im Film „Überfall
       der Ogalalla“ (1941): Mit dem Bau der ersten Ferntrassen – analog zum
       Straßenbau der Römer oder den Kanalanlagen der Ägypter – wurde das weite
       und wilde Land domestiziert. Fortan wurde Raum durch Zeit ersetzt und
       Synchronität hergestellt. Es war der erste Schritt zu [1][Marshall
       McLuhan]s Vision einer globalen Netzwerk- und Menschheitsgesellschaft. Man
       wuchs imaginär zusammen.
       
       ## Die Idee einer Mediologie
       
       Mehr noch: Ersehnten die christlichen Propheten über Jahrtausende die
       Loslösung der Seele aus den Fesseln des Körpers, ist diese Utopie aus dem
       20. Jahrhundert längst zur Wirklichkeit geworden. Insbesondere die Idee
       einer „Mediologie“, wie sie die Philosophin Sybille Krämer im
       Zusammenfallen von Medientheorie und Theologie sieht, wird hierin
       offensichtlich. Analog zu unsichtbaren Engeln oder göttlichen Mächten
       schlägt die Telekommunikation eine immaterielle Brücke zwischen zwei
       entfernten Polen.
       
       Ohne unsere leibliche Präsenz einzufordern, gewährt uns das Telefonat Hier-
       und Mitsein – in Zeiten von Social Distancing muss man dies als echte
       Wohltat bezeichnen! Wo wir uns aktuell begegnen, schauen wir oft verdutzt
       zur Seite oder gehen im großen Bogen umeinander. Der gute alte
       Fernsprechapparat hält zumindest den Eindruck einer Begegnung aufrecht.
       Überhaupt stellt er seit seiner Erfindung einen Zwischenkosmos für allerlei
       Illusionen dar.
       
       In Filmen wie Truffauts „Die Frau von nebenan“ (1981) offenbart es sich als
       virtuelle Sphäre erotischen Begehrens. Um unbemerkt von ihren Partnern
       miteinander zu sprechen, nutzen hierin die Protagonisten, die in
       Nachbarschaft leben, das Telefon als versteckten Kommunikationsraum für
       ihre amouröse Beziehung.
       
       ## Sehnsüchte und Abgründe
       
       Weil sich in ihm allerlei Sehnsüchte und Abgründe manifestieren, hat
       Hollywood am Medium Telefon schon früh Lunte gerochen. Man denke an all die
       Hitchcock- und Horrorfilme, in denen der Apparat eine spannungssteigernde
       Funktion einnimmt.
       
       Bis in die Ästhetik des Kinos wirkt dessen Erfindung hinein – spielte doch
       gerade die Gleichzeitigkeit im Fernsprechmodus für die Entwicklung der
       Parallelmontage in den frühen Werken von Filmpionier David W. Griffith eine
       bedeutende Rolle. Was die Traumfabrik uns seit mehr als einem Jahrhundert
       vor Augen führt, ist die theatrale, spielerische Kulisse des Telefons.
       
       Ihm fehlt das Bild und darin liegt das Potenzial zur grenzenlosen
       Selbstinszenierung. Man denke nur an den Techniker Ebling aus Daniel
       Kehlmanns [2][„Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten“] (2009). Mithilfe des
       Handys vermag er in eine andere Persönlichkeit zu schlüpfen und mit einer
       ihm fremden Identität Chaos anzurichten.
       
       Die reine „Privilegierung der Stimme“, wie Stefan Münker schreibt, lässt
       genügend Leerstellen und bietet reichlich Raum zum Experimentieren. Gerade
       weil wir auf einen Sinn beschränkt sind, wird unsere Fantasie auf das
       Höchste stimuliert. Telefonieren bedeutet daher auch Kopfkino, bestehend
       aus Bildern, die der Vorstellung des Abwesenden entspringen.
       
       Statt dem Nebenherdaddeln im Netz und dem Parallelschreiben in diversen
       Chats erfordert das Telefon unsere maximale Aufmerksamkeit. Wir können uns
       ihm nicht entziehen. Es erweist sich Marshall McLuhan zufolge als
       „unwiderstehlicher Eindringling“. Noch drastischer formuliert Walter
       Benjamin in seinen Kindheitserinnerungen, dass man mit dem Abnehmen des
       Hörers „gnadenlos der Stimme ausgeliefert [war], die das sprach. Nichts
       war, was die unheimliche Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte“.
       
       ## Eintritt in die Intimspähre
       
       Sobald es klingelt, ereignet sich in der Tat der Eintritt des anderen in
       die Intimsphäre. An ihm exerziert die Moderne, dass die private Existenz
       vorbei ist. Denn während einst Beruf und Familie in unterschiedlichen
       Kosmen stattgefunden haben, markiert die Telekommunikation eine wesentliche
       Zäsur. Man ist fortan auch zu Hause für das Büro und umgekehrt erreichbar.
       
       Dies trägt nicht nur wie in der TV-Serie „Mad Men“ zu einer zunehmenden
       Konfusion beim Organisieren von Affären und Geschäftsterminen bei, sondern
       stellt überdies den Beginn der Überwachungsgesellschaft dar. Eindrücklich
       belegt etwa [3][Eugen Ruges Dystopie „Follower“ (2016)] die ökonomischen
       und staatlichen Kontrollmechanismen, die mit der Datenerfassung durch das
       Smartphone, dem vorläufigen Gipfel der Weiterentwicklung des Telefons,
       einhergehen.
       
       Telekommunikationsmittel, allen voran mit uns beinah verwachsene,
       organähnliche Handys, lassen uns auf beklemmende Weise gläsern werden und
       öffnen uns zugleich freudig für die Welt. Als einer der Ersten hat
       beispielsweise Ernst Jünger in seinem futuristischen Roman „Heliopolis.
       Rückblick auf eine Stadt“ von 1949 diese Ambivalenz zum Ausdruck gebracht.
       
       Hierin erscheint der „Phonophor“, der sich als Frühform des Mobiltelefons
       versteht, als Instrument zur ultimativen Beherrschung der Bevölkerung,
       insofern jeder dadurch immer erreichbar und disziplinierbar ist,
       einerseits; andererseits geht von ihm die endgültige „Vernichtung der
       Einsamkeit“ aus. Man ist nicht mehr allein, sondern Teil eines Dialogs.
       
       Im Gegensatz zum heute verstärkt schriftlichen Austausch via Chat und
       Kurznachrichten lädt das Telefonat explizit zum Gespräch ein. Als
       Voraussetzung gilt der Wille zum gegenseitigen Verstehen, zum empathischen
       Nachvollzug der Situation des verborgenen Gegenübers. In Pandemiezeiten tut
       die Möglichkeit der Annäherung über weite Strecken gut.
       
       ## Position der Mitte
       
       Aber auch für die Post-Corona-Ära könnten wir daraus wichtige Schlüsse
       ziehen. Lässt sich in den sogenannten sozialen Medien ein Trend zum
       gegenseitigen Anbrüllen und Beschimpfen beobachten, verlangt das Telefon
       von den Beteiligten eine Position der Mitte. Sein Kommunikationsangebot
       funktioniert nicht monodirektional, es bedarf des Austauschs. Es gibt sich
       inmitten einer erhitzten Konfrontationskultur als potenzieller neuer Träger
       einer Ethik des Zuhörens zu erkennen.
       
       Der andere wird nicht als Teil eines uniformen Meinungsblocks
       identifiziert, seine Stimme weist vielmehr auf ein Individuum hin, das
       zunächst einmal anzuerkennen, ja zu würdigen jedes Ferngespräch gebietet.
       
       Sollten wir somit auch zukünftig wieder verstärkt zum Hörer greifen?
       Unbedingt! Holt abseits des dauerpräsenten Smartphones das Telefon wieder
       aus der musealen Ecke hervor! Ob mit Wählscheibe oder Tasten, ob mit Kabel
       oder schnurlos – was wir im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte als
       Nostalgikum wahrgenommen haben, könnte nunmehr ein Versprechen für die
       Zukunft sein. Also: Nehmt ab, seid anwesend, reoralisiert euch!
       
       7 Apr 2020
       
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