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       # taz.de -- Regina Porters Romandebüt: Eine offene Geschichte
       
       > Regina Porter lässt in ihrem fulminanten Romandebüt „Die Reisenden“ zwei
       > amerikanische Familien sprechen. Eine ist schwarz, die andere ist weiß.
       
   IMG Bild: Regina Porter war bisher als erfolgreiche Stückeschreiberin bekannt, jetzt erschien der erste Roman
       
       Identitätspolitik ist heiß umstritten, und das nicht erst seit vorgestern.
       Dass es bei Regina Porter in ihrem Romandebüt „Die Reisenden“ um
       (kulturelle) Identitäten geht, liegt auf der Hand, wenn jemand die
       Geschichte zweier vielfach miteinander verwobenen Familienclans in den USA
       erzählt, der eine weiß, der andere schwarz, und dies über einen Zeitraum
       von gut fünfzig Jahren, bis in die Zeit der ersten Obama-Administration.
       
       Die politics of identity ist dabei allerdings nicht ihr Ansatz. Die
       zahlreichen Figuren dieses Romans definieren sich nicht vorrangig durch
       ihre – tatsächliche oder eingebildete – Zugehörigkeit zu bestimmten
       Gruppen, sondern vor allem durch ihre individuellen Obsessionen.
       
       Deshalb erfahren wir die Geschichte des Joyce-Forschers Rufus Vincent
       ebenso wie die des Navy-Veteranen Eddie Christie, der sich ein halbes Leben
       lang mit Tom Stoppards Stück „Rosencrantz and Guildenstern are dead“ aus
       dem Jahr 1966 beschäftigt und es auswendig rezitieren kann.
       
       Seine Tochter Claudia wird später Rufus Vicent heiraten und ihrerseits
       Shakespeare-Forscherin werden. Eddies Frau Agnes ihrerseits ist
       Stadtplanerin. Wir haben es aber auch mit einem Möbelpacker, einer
       ehemaligen Sozialarbeiterin (in Berlin), einer Pilotin, die in Vietnam im
       Einsatz ist, einem Fischer, einer Krankenschwester, einer Meeresbiologin
       und vielen anderen zu tun.
       
       ## Erfolgreiche Stückeschreiberin
       
       Regina Porter ist in den USA bisher als erfolgreiche Stückeschreiberin in
       Erscheinung getreten, und ihre Erfahrung im szenischen Schreiben merkt man
       ihrem Romandebüt deutlich an. Das heißt jedoch nicht, dass die Autorin ihre
       handwerkliche Erfahrung einfach vom Theater in die Prosa überträgt und
       dabei ein gut gemachter, inhaltlich spannender und recht unterhaltsamer
       Roman herauskommt.
       
       Nein, dieses Romandebüt ist wirklich fulminant. Es fordert den sehr
       aufmerksamen Leser und ist zugleich ein Pageturner, eigentlich ein
       Widerspruch in sich.
       
       Das liegt zum einen an der amerikanischen Geschichtsschreibung, die Porter
       anhand ihrer Zweifamilienstory betreibt. Es liegt zum anderen aber auch am
       enormen Tempo dieses Romans und an seinen hinreißenden Sprachen, denn es
       sind viele Stimmen, die hier sprechen. Etwa die von Agnes, und von Eloise,
       die später Fliegen lernt, weil ihr als Kind ein Artikel über Bessie Coleman
       in die Hände gefallen ist, die in den Zwanzigern die erste Afroamerikanerin
       mit einem Pilotenschein war.
       
       Als Eloise das Haus von Agnes’ Eltern verlässt, wo sie lange gewohnt und
       ihre Freundin in die Freuden der lesbischen Liebe eingeführt hat, gibt es
       folgende rührende Abschiedsszene: „Als Eloise sich erhob, um für immer
       fortzugehen, folgte Agnes ihr bis zur Haustür und fragte, ob Eloise ihr
       vielleicht den Bessie-Coleman-Zeitungsausschnitt als Andenken dalassen
       würde. –,Agnes', sagte Eloise, ‚ich würde dieses Haus gern auf freundlichem
       Fuß verlassen. Aber du kannst mich wirklich und wahrhaftig am schwarzen
       Arsch lecken.‘
       
       Agnes seufzte und fächelte sich mit einem unsichtbaren Fächer Luft zu. Wäre
       ihre Mutter nicht da gewesen, hätte sie vielleicht sogar gesäuselt:,Aber
       Eloise, das habe ich doch längst getan.'“
       
       ## Erinnerung an Dos Passos „Manhattan Transfer“
       
       Das alles geschieht nicht brav linear, sondern in einem ständigen Wechsel
       zwischen den Jahrzehnten und den Personen. Man darf sich dabei durchaus an
       [1][Dos Passos’ „Manhattan Transfer“] und an die Romane William Faulkners
       erinnert fühlen. Gerade zu Anfang nimmt man gern das „Verzeichnis der
       handelnden Personen“ im Anhang des Buchs zu Hilfe.
       
       Nach und nach werden die Fäden miteinander verknüpft, und wenn der Leser
       beim zweiten Mal dem schwarzen Vietnamveteranen Eddie Christie oder dem
       weißen Joyce-Forscher Rufus Vincent begegnet, werden sie ihm schon
       wesentlich vertrauter sein.
       
       Vielleicht wird er dann und wann zurückblättern wie in einem alten
       Fotoalbum, und wie ein Fotoalbum ist Porters Roman organisiert. Deshalb
       wird er auch von Anfang bis Ende von Fotos begleitet, die Porter
       zusammengetragen hat, viele davon aus der Sammlung der Library of Congress.
       Sie machen, nicht als Illustrationen, sondern als integrale Teile des
       Romans noch einmal dessen Grundstruktur deutlich.
       
       ## Rassentrennung und Bürgerrechtsbewegung
       
       Auch die einzelnen Kapitel dieses Buchs sind Aufnahmen von früher, die
       zugleich Vergänglichkeit veranschaulichen und das Faktum, dass, nach
       William Faulkners berühmten Satz, das Vergangene nicht tot und nicht einmal
       vergangen ist. Die jüngeren Generationen in diesem Roman, vor allem die aus
       dem schwarzen Familienclan, wagen zwar nicht, ihre Eltern nach deren
       Erfahrungen in der Zeit der Rassentrennung und der frühen
       Bürgerrechtsbewegung zu fragen, dennoch werden diese gleichsam genetisch
       weitergegeben.
       
       So hat es die Autorin in einem Interview beschrieben, und so muss es auch
       ihr selbst ergangen sein, denn Regina Porter aus Savannah in Georgia,
       tiefste Südstaaten also, ist 1966 geboren. Sie war zwei, als Martin Luther
       King in Memphis ermordet wurde, und noch gar nicht auf der Welt, als die
       Supremes mit Diana Ross als Leadsängerin ihre ersten Erfolge hatten.
       
       Beide Ereignisse, auf so unterschiedlicher Ebene sie auch gelagert sind,
       spielen in ihrem Roman wiederholt eine Rolle, und in beiden Fällen erzählt
       Porter sinnlich und glaubhaft davon und benutzt sie nicht etwa als reines
       Etikett, mit dem man bestimmte Jahreszahlen bekleben kann. Nur an ganz
       wenigen Stellen traut sie ihrer eigenen Erzählkunst oder dem Gedächtnis
       ihrer Leser nicht und erteilt in ein paar Sätzen ein bisschen historischen
       Nachhilfeunterricht.
       
       Zum Glück der Leser fügt Porter ihren Roman, der vor allem eine Abfolge von
       aufeinander bezogenen Momentaufnahmen ist, am Ende nicht zu einem runden
       und sinnstiftenden Ganzen zusammen. Zwar ist das Ende versöhnlich, aber vom
       friedlichen Happy End ist der Roman weit entfernt.
       
       Die Autorin weiß, dass es sich um eine immer noch fortlaufende und offene
       Geschichte handelt, die sie erzählt. Das tut sie abseits verkürzter
       Identitätspolitik und mit Bravour, mit einem ausgeprägten Sinn für Komik
       und mit einer sprachlichen Vielstimmigkeit, die die Übersetzerin Tanja
       Handels durchgängig auf gleicher Höhe abbildet.
       
       22 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Hoerspiel-Manhattan-Transfer/!5303063
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jochen Schimmang
       
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