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       # taz.de -- Corona und die Wirtschaftsfolgen: Wider den Wachstumsfetisch
       
       > Corona lehrt uns, dass es politisch möglich ist, die Wirtschaft
       > runterzufahren.
       
   IMG Bild: Bis auf Weiteres kein Abflug. Ein Hase hoppelt über den Frankfurter Flughafen
       
       Jetzt ist die Zahl raus: Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren
       für das zweite Quartal 2020 einen [1][Rückgang des Bruttoinlandsprodukts]
       in Deutschland um 9,8 Prozent. Das ist der stärkste Quartalsrückgang seit
       Beginn dieser Messung im Jahr 1970 – und doppelt so viel wie während der
       Finanzkrise im ersten Quartal 2009. Anders als bei der Weltfinanzkrise
       handelt es sich dieses Mal um eine bewusste Wachstumsrücknahme:
       
       Die Schrumpfung wurde politisch beschlossen für ein höheres Ziel als
       Wirtschaftswachstum, nämlich um Menschenleben zu retten. Eine große
       Mehrheit der Bevölkerung trägt diese Entscheidung unter Inkaufnahme hoher
       persönlicher Verluste mit. Ist das nun eine Postwachstumsökonomie? Im
       „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ arbeiten wir seit Langem über Möglichkeiten
       einer [2][Wirtschaft ohne Wachstum], einer Degrowth-Gesellschaft. Und wir
       müssen klar sagen:
       
       Nein, was wir aktuell sehen, ist keine Postwachstumsgesellschaft. Denn eine
       Degrowth-Wirtschaft will ein gutes Leben für alle Menschen, ist krisenfest
       und ökologisch nachhaltig. Die aktuelle Situation ist eine kapitalistische
       Wirtschaftskrise. Sie verschärft Ungleichheiten und Ausgrenzung. Sie
       bedroht Millionen Menschen existenziell, weil die Sozialsysteme nicht vom
       Wachstum entkoppelt sind. Trotzdem zeigt die Coronakrise eines, das wir für
       die Zeit danach nicht vergessen sollten:
       
       Es ist politisch möglich, für ein höheres Gut die Wirtschaft
       zurückzufahren. Niemand kann mehr sagen, eine Reduktion von Inlandsflügen,
       um dadurch das Klima zu schützen, sei unmöglich. Die Bedeutung von
       [3][Sorgearbeit] – im Gesundheitsbereich, in der Kinderbetreuung oder der
       Hausarbeit – wird gerade in dieser Krise vielen Menschen bewusst. Weil
       Sorgearbeit so zentral wichtig für ein gutes Leben für alle ist, steht sie
       in einer Postwachstumsgesellschaft im Zentrum.
       
       ## Die Krise zeigt, dass radikale Veränderungen machbar sind
       
       Dort ist sie besser bezahlt, gesellschaftlich anerkannt und
       geschlechtergerecht verteilt. Anerkennung von Sorgearbeit baut globale
       „Sorgeketten“ ab. Die Menschen sind dann lokal gut versorgt und nicht auf
       prekarisierte Arbeitsmigrant*innen angewiesen, die eine Lücke in ihren
       Familien und Herkunftsorten hinterlassen, um in reicheren Ländern zu
       arbeiten. Im Homeoffice stellen gerade viele Menschen fest, wie
       zeitintensiv Sorgearbeit ist.
       
       Eine radikale Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich für untere und
       mittlere Lohngruppen ist deshalb eine Kernforderung von Degrowth. Sie
       verteilt das in Deutschland sehr ungleiche Einkommen und damit Macht um.
       Aus Degrowth-Perspektive ist Arbeitszeitverkürzung auch wünschenswert, um
       die Wirtschaft wachstumsunabhängiger und stabiler zu machen:
       
       Wenn mehr Menschen weniger arbeiten und ressourcenintensive Maschinen, wo
       es sozialökologisch sinnvoll ist, zurückgebaut werden, dann müssen weniger
       Menschen entlassen werden, wenn die Wirtschaft schrumpft. Vermögen und
       Energieverbrauch müssen viel höher besteuert werden als Arbeit, damit es
       unattraktiv wird, viel Kapital in Maschinen zu investieren.
       
       Diese Krise zeigt erneut, dass nur ein Rückgang des BIPs zu einem
       ausreichend schnellen Absinken der Umweltbelastungen und des CO2-Austoßes
       führt, um dem Klimawandel wirksam zu begegnen. Eine ausreichende
       Entkopplung von CO2-Verbrauch und BIP-Wachstum ist unmöglich. Deshalb
       fordert Degrowth einen umfassenden sozialökologischen Umbau der
       Wirtschaft, der auch mit einem Rückgang des BIPs in den Ländern des
       globalen Nordens einhergeht.
       
       Wir dürfen nach der Krise nicht zur sozial ungerechten und ökologisch
       zerstörerischen Wachstumswirtschaft zurückkehren. In einem
       Degrowth-Szenario gibt es daher keine Rettungsaktionen für fossile
       Industrien. Stattdessen muss ein Investitionsprogramm für
       Klimagerechtigkeit gemeinwohlförderliche Wirtschaftsbereiche stärken.
       Diese sollen wachsen und im Sinne eines sozialökologischen Strukturwandels
       Arbeitskräfte aus schrumpfenden Wirtschaftszweigen aufnehmen.
       
       ## Globale Produktions- und Lieferketten sind krisenanfällig
       
       Die Corona-Wirtschaftskrise zeigt, dass globale Produktions- und
       Lieferketten nicht nur menschenrechtlich und ökologisch viele Probleme mit
       sich bringen, sie sind auch sehr krisenanfällig. Deshalb müssen sie lokaler
       gestaltet werden. Im Sinne eines offenen Lokalismus darf eine lokalere
       Wirtschaft jedoch nicht einen Nationalismus befeuern, wie die derzeitige
       Engführung des Solidaritätsbegriffs befürchten lässt.
       
       In einer solidarischen Postwachstumsgesellschaft ist Bewegungsfreiheit für
       Menschen, egal in welchem Land sie geboren wurden, ein Grundrecht.
       „Entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens und der Sorge
       umeinander oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen
       Zerstörung“, schreibt Raul Zelik in der WOZ. 
       
       Jetzt ist die Zeit, alles dafür tun, dass die Krise keinen autoritäreren
       Kapitalismus hervorbringt, der unsere Gesellschaften und Ökosysteme
       schneller destabilisiert und eine große Transformation zunehmend
       verunmöglicht. Jetzt ist die Zeit, eine breitere demokratische Beteiligung
       in einem transparenteren Corona-Krisenmanagement zu erkämpfen. Dieses wird
       nicht morgen vorbei sein.
       
       Es ist die Zeit, Diskussionen über alternative Gesellschaftsentwürfe und
       Politikvorschläge wie Ernährungswende, Verkehrswende, Mobilitätswende und
       viele mehr zu vertiefen. Diese Krise macht deutlich, dass radikale
       Veränderungen unserer Lebens- und Produktionsweise möglich sind und von
       einer breiten Mehrheit getragen werden können. Bei einer sozialökologischen
       Transformation gibt es für die meisten Menschen viel zu gewinnen.
       
       Die Klima- und Gerechtigkeitskrise auf diesem Planeten ist allein technisch
       nicht zu lösen: Das ist ein politisches und kulturelles Projekt. Jetzt ist
       die Zeit für den demokratischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft im
       Sinne eines guten Lebens für alle.
       
       21 Apr 2020
       
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