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       # taz.de -- Masken-Projekt in Thüringen: Wie Migranten gegen Corona nähen
       
       > Mit Mundschutz und Betreung: Im thüringischen Gera helfen Flüchtlinge
       > jetzt den Deutschen aus der Coronakkrise.
       
   IMG Bild: Die Maskenäher: Mitglieder des Vietnamesischen Vereins in Gera stiften Gesundheit
       
       Gera taz | Im Rehabilitationszentrum des Arbeiter-Samariterbundes im Geraer
       Stadtteil Lusan ist ein Tisch aufgebaut, vor dem ein Korb mit 250
       Gesichtsmasken steht. Deren Vorführung käme einem Maskenball gleich, so
       bunt und vielfältig leuchten die verwendeten Stoffe.
       
       Die, die sie genäht haben, sind zur Übergabe an den Arbeiter-Samariterbund
       erschienen: acht Frauen vom Vietnamesischen Verein und deren Vorsitzender
       Nguyen Chinh Duc. Seit Wochen dürfen auch sie ihre Gaststätten und Imbisse
       nicht mehr öffnen. Also setzten sich die Frauen an ihre Nähmaschinen und
       beteiligten sich am Volkssport des Maskennähens. „Wir haben schon beim
       Elster-Hochwasser 2013 geholfen und gespendet. Das ist unsere Mentalität“,
       lobt der Vorsitzende die Vereinsgemeinde.
       
       70 Familien mit etwa 300 Personen haben sich in dem Verein
       zusammengeschlossen. Sie kamen zum Teil schon zu DDR-Zeiten aus Vietnam. In
       der Coronakrise nähen sie gratis Masken für die Wohlfahrtsverbände. Die 250
       für den Arbeiter-Samariterbund sind schon die zweite Charge. „Wir tun das
       von Herzen, denn wir fühlen uns hier zu Hause“, betont Huong Nguyen, eine
       selbstbewusste Frau in eng anliegenden Hosen. Man sieht ihr nicht an, dass
       sie schon 1987 in einem DDR-Textilbetrieb arbeitete, bevor sie 1991 ihren
       eigenen Laden eröffnete.
       
       „Sie können gut nähen“, lobt Samariterbund-Heimleiterin Doreen Wiesner die
       Nadelkünste der asiatischen Frauen, „das ist ihnen in die Wiege gelegt.“
       Sie seien überhaupt sehr geschickt, meint sie beim Betrachten der kreativ
       gestalteten Masken-Unikate. Schon früher habe man defekte Dinge „zum
       Vietnamesen“ gebracht. Das Zusammengehen mit Ausländern, die eigentlich
       schon lange gar keine Ausländer mehr sind, findet Heimleiterin Wiesner in
       der akuten Belastungssituation nicht ungewöhnlich. „Im Sozialbereich
       wachsen wir ohnehin eher zusammen!“
       
       Das Stadtteilzentrum von Gera-Lusan befindet sich etwa einen Kilometer vom
       Haus des Arbeiter-Samariterbunds entfernt in einer ehemaligen
       Kindertagesstätte. Hier hat der Interkulturelle Verein Gera seinen Sitz.
       Auf den zusammengeschobenen Tischen im größten Raum stapeln sich die
       Hilfsgüter. Nesrin Bakkour, eine aus Syrien stammende stille Frau mit
       Kopftuch, sitzt hinter einer originalen Veritas-Nähmaschine aus DDR-Zeiten.
       Die Herkunft der stellvertretenden Vereinsvorsitzenden Olga Lange verrät
       nur noch ihr Vorname, so akzentfrei spricht sie Deutsch. Sie kam als
       Spätaussiedlerin nach Gera, als es noch die Sowjetunion gab. Der Raum war
       einst die russische Bibliothek, verrät sie, und an der Wand hängt ein
       Plakat mit dem kyrillischen Alphabet.
       
       Hier wird eine Flüchtlingshilfe in umgekehrter Richtung praktiziert, bei
       der die Migranten zu Helfern für ihre deutschen Mitbürger avancieren. Schon
       seit drei oder vier Jahren leben sie in der Bundesrepublik, ihr
       Asylverfahren ist längst abgeschlossen und sie besitzen eine Aufenthalts-
       und Arbeitserlaubnis. Automechaniker, Tischler oder Zahntechniker nennen
       sie als ihre erlernten Berufe.
       
       Es begann schon lange vor Ausbruch der Pandemie. Der Interkulturelle Verein
       hatte eine Vereinbarung mit dem Jugendamt der Stadt Gera über
       Hausaufgabenhilfe für Migrantenkinder getroffen. Dazu gehört auch
       interkulturelle Bildung bei Veranstaltungen in Schulen und
       Jugendeinrichtungen. Jetzt aber sind diese geschlossen, und auch der
       Vereinssitz im Stadtteilzentrum musste dichtmachen. Für die dezentral
       untergebrachten Geflüchteten fallen dadurch viele der täglichen Kontakte
       weg. Die beiden Vereinsvorsitzenden Evelyn Fichtelmann und Olga Lange
       beobachten bei ihren Schützlingen in diesen Wochen gar den Verfall ihrer
       gerade erworbenen sprachlichen Fähigkeiten.
       
       ## Ausschließlich positive Reaktionen
       
       Die beiden Frauen erfuhren vom Aufbau einer Nachbarschaftshilfe in
       Krisenzeiten und boten der Geraer Ehrenamtszentrale die Unterstützung des
       Interkulturelle Vereins an. Eine riskante Idee, so schien es. Ob sich die
       Männer arabisch-muslimischer Prägung an Hilfsdiensten für bedürftige, in
       ihren Wohnungen festsitzende Deutsche beteiligen würden? Ob die Adressaten,
       häufig ältere Angehörige von Risikogruppen, diese Hilfe überhaupt
       akzeptieren würden?
       
       Also rief die Vereinsleitung bei ihren Klienten an und klärte sie über die
       bevorstehenden Besuche hilfsbereiter Migranten auf. „Es gab ausschließlich
       positive Reaktionen“, berichtet Evelyn Fichtelmann, selbst noch ganz
       erstaunt. Die anfängliche Skepsis einer lungenkranken Frau sei nach den
       ersten Erfahrungen verflogen. Ein „ganz Lieber“ sei ihr afghanischer
       Helfer, und er mache das „ganz toll“.
       
       Vereinbart sind klare Regeln, die solche Zustimmung durch die Eingeborenen
       erleichtern. „Unsere Migranten übernehmen keine Betreuungs- oder
       Pflegeaufgaben und betreten die Wohnungen nicht“, erklärt Fichtelmann. Wenn
       sie die Arzneien und Lebensmittel vor der Wohnungstür ablegen, tragen sie
       Atemschutzmasken und Handschuhe. Sie wechseln ihre Klienten nicht und bauen
       so eine persönliche Verbindung auf.
       
       Die Männer bestätigen die ihnen entgegengebrachte Aufgeschlossenheit, wenn
       sie an den Türen klingeln. „Der Einkauf kostete 11 Euro, aber der Mann
       bestand darauf, dass ich 15 nehme“, berichtet der Kaukasusdeutsche Andrei
       Kazalikashvili. Auch der junge Syrer Mirie Almohammad spricht von
       „dankbaren Deutschen“, die stets 50 Cent Taschengeld drauflegen wollten,
       was wiederum die Helfer nicht annehmen. Almohammad ist so etwas wie der
       Sprecher der syrischen Community im knapp 100.000 Menschen zählenden Gera.
       Er ist in einem Flüchtlingsprojekt angestellt. Die anderen 13 Helfer
       erhalten vom Bundesfreiwilligendienst 200 Euro Aufwandsentschädigung
       monatlich.
       
       Mirie Almohammad schildert die Lern- und Anpassungsprozesse an die deutsche
       Essens- und Einkaufskultur. Die Migranten sind es gewohnt, in den vier
       vorhandenen Spezialitätengeschäften Geras nach ihren Gewohnheiten
       einzukaufen. Nun steht plötzlich „Scheibenkäse“, „Leberwurst“ oder „Wurst
       vom Netto“ auf dem Einkaufszettel. Darf es auch Wurst vom Kaufland sein?
       Eine Herausforderung bedeutet auch die aufwändige Beschaffung der
       Arzneimittel. Es gilt eine Vollmacht zu beschaffen, dann das Rezept
       einzulösen. Den Begriff „Kundenkarte“ lernen die Geflüchteten nebenbei. Das
       sei „gelebte Integration“, schwärmt Vereinschefin Olga Lange.
       
       ## Rassismus nicht verschwunden
       
       Das Geraer Beispiel bedeutet freilich nicht, dass damit alle Ressentiments
       gegen Migranten verschwinden würden. Yamen Chuieb ist der Stillste und der
       Älteste in der Runde und der Einzige, der indirekt auch schon Undank für
       seine Hilfe erfahren hat. Seine zufriedene Adressatin, eine Krebspatientin,
       hat ihm von den aufgebrachten Äußerungen ihrer Nachbarin erzählt. „Was
       macht der hier, der soll zurück“, habe diese gerufen, woraufhin sie sich
       für ihre Nachbarin geschämt habe.
       
       Bei der Verabschiedung ist es wieder Yamen Chuieb, der die versöhnliche
       Stimmung zwischen deutschen Gastgebern und ihren gar nicht mehr so fremden
       Mitbürgern trübt. „Aber schreiben Sie bitte auch über den alltäglichen
       Rassismus“, nimmt er den Reporter beiseite. Und erzählt, wie in seinem Haus
       Grüße nicht erwidert und sein Namensschild an Klingel und Briefkasten immer
       wieder entfernt werden. Die Helferin Nesrin Bakkuor berichtet, sie sei in
       der Straßenbahn unter dem Vorwand des Infektionssicherheitsabstands dazu
       aufgefordert worden, den Sitzplatz neben einer Deutschen zu verlassen,
       während sich ein anderer Deutscher setzen durfte.
       
       Der enormen Dankbarkeit gegenüber ihrem Gastland tut das bei den Migranten
       aber keinen Abbruch. „Wenn sie von ihrer Heimatstadt sprechen können,
       bedeutet das viel mehr Lokalpatriotismus, ja Pathos als bei Deutschen“,
       erklärt Vereinsvorsitzende Olga Lange. Mirie Almohammad etwa will seiner
       „zweiten Heimat“, wie er sagt, etwas zurückgeben, „die mir Sicherheit und
       Freiheit gegeben hat“. Andrei Kazalikashvili möchte gar lernen, „ein echter
       deutscher Mann zu werden“.
       
       „Die Hilfe und dieser Geist könnten über die Krise hinaus weitertragen“,
       gibt sich Evelyn Fichtelmann optimistisch. Ihre Ko-Chefin Olga Lange ist
       skeptischer. „Wenn alles wieder in Ordnung ist, kann auch schnell wieder
       vergessen werden, was man ändern müsste!“
       
       22 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bartsch
       
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