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       # taz.de -- Folgen der Corona-Quarantäne: Mein Telefon sagt du
       
       > Die Corona-Quarantäne macht viele von uns wieder zu Teenagern. Statt nur
       > auf dem Smartphone zu tippen, wird nun ständig telefoniert.
       
   IMG Bild: Und wen ruf ich als nächstes an? Plötzlich haben wir auch sehr viel Zeit zum Telefonieren
       
       Als ich vom Briefmarkenautomaten zurückkomme, steht bei der „Zu
       verschenken“-Kiste in meiner Straße einer mit tief sitzender Mütze,
       blättert in einem Buch und spricht dabei wie einst Joseph Beuys vor sich
       hin: „Ja, ja, ja, ja, nee, nee, nee, nee.“ Ich kann nicht erkennen, um
       welches Buch es sich handelt, aber eine Reaktion scheint der Typ ohnehin
       nicht zu erwarten. Selbstgespräche, konstatieren Psycholog*innen momentan
       einhellig, seien in der aktuellen Isolation völlig normal. Irgendwo muss
       man schließlich hin mit seinen Worten.
       
       Als Teenager gehörte Telefonieren zu meinen größten Hobbyes. Stundenlang
       hing ich damals an der Strippe, anfangs in Ermangelung eines schnurlosen
       Apparats wortwörtlich und im frostigen Hausflur, später dann zumindest im
       eigenen Zimmer. Keine Ahnung, was damals so dringend fernmündlich
       diskutiert werden musste. Heute telefoniere ich fast nur noch beruflich
       oder mit meiner Mutter.
       
       Die Corona-Quarantäne hat mich jedoch, was das angeht, zurück in die späten
       1990er katapultiert. Ich habe sogar ein paar ganz neue
       Covid-19-Telefonfreund*innen, Leute, mit denen ich vorher kaum Kontakt
       hatte. Interessanterweise ist es ja so, dass man sich in der vernetzten
       Welt selbst in der Isolation annähern kann.
       
       Ich fürchte, allen, die mit Kindern zu Hause festsitzen, passiert das eher
       nicht. Eines jener zahllosen Memes, die gerade in den sozialen Netzwerken
       kursieren, zeigt einen gepflegten Mel Gibson, wie er neben seinem
       blutüberströmten Jesus-Darsteller sitzt und ihm irgendetwas wild
       gestikulierend erklärt: „Explaining to my friends with kids under 6 how
       it’s been isolating alone“ steht darüber. Einsame Ein-Zimmer-Höhlen haben
       durchaus ihre Vorteile, ich weiß.
       
       Als der Lockdown kam, ging ich davon aus, ich würde mich fortan nur noch
       langweilen. Stattdessen kommuniziere ich jetzt unentwegt, wenn ich nicht
       gerade arbeite, Grundbedürfnissen nachgehe oder lese. S. schickt mir
       Videos, auf denen sie zu Dua Lipa tanzt, C. Artikel, über die sie sich
       aufregt, J. Posts von Céline Dion, T. Ideen für seinen neuen Film, L. Fotos
       aus ihrem umgeräumten Atelier, E. solche von seinen Kuscheltieren, A., der
       in Mailand lebt, Nachrichten aus der Zukunft. Und so weiter und so weiter.
       
       Die meisten aus meinem Corona-Zirkel haben so wie ich weder eine feste
       Anstellung noch eine feste Beziehung. Wir passen aufeinander auf, teilen
       mehr oder weniger kluge Gedanken, intime Belanglosigkeiten,
       Alltagsbeobachtungen.
       
       Sogar M., von dem ich nur alle Jubeljahre höre, schickte mir kürzlich einen
       Link zum Instagram-Kanal der [1][Kantonalen Hochschule für Kunst und Design
       Lausanne]. Eine dieser öden Livestreaming-Geschichten, dachte ich und
       wollte schon wegklicken, bis ich erkannte, wer da saß: [2][Jean-Luc Godard,
       die verbliebenen Haare zu Berge stehend,] tannengrüner Pullunder überm
       karierten Hemd, Zigarre zwischen den Fingern, wache Augen hinter
       Brillengläsern. Ich beschreibe diese Äußerlichkeiten so ausführlich, weil
       ich leider nicht genau wiedergeben kann, was er gesagt hat.
       
       Vielleicht würde ich mich unter anderen Umständen ärgern, dass M. nicht
       mehr weiß, wie schlecht meine Französischkenntnisse sind. Der Anblick
       Godards, schon gar auf Instagram, war aber auch ohne das nötige Vokabular
       rührend genug, und irgendwie passte das sogar, geht es in den Filmen
       Godards doch oft um die Unzulänglichkeit von Sprache. Der Interviewer trug
       im Gegensatz zu Godard während des Gesprächs übrigens eine Schutzmaske. Die
       Vorstellung, wen wir alles durch diese Krankheit verlieren könnten, wer
       alles zur Risikogruppe gehört, ist absolut entsetzlich.
       
       Meine ganzen Unterhaltungen auf den verschiedenen Kanälen fressen natürlich
       irre viel Zeit, aber da sowieso fast alles von dem, womit ich meine
       Freizeit vorher verbracht habe, weggefallen ist, finde ich das ziemlich in
       Ordnung. Gut, ich könnte produktiver sein, aber reicht doch, wenn alle
       anderen Brot backen, Balkone bepflanzen und Fenster putzen.
       
       16 Apr 2020
       
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