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       # taz.de -- 25 Jahre Le Monde diplomatique: Alarm im Cyberspace!
       
       > 1995, im Geburtsjahr des Internet Explorer 1.0, macht sich ein Philosoph
       > Gedanken über die gesellschaftlichen Folgen der virtuellen
       > Globalisierung.
       
   IMG Bild: „Internet Cafe“ auf der CeBIT 1996
       
       Das Phänomen der Unmittelbarkeit, der Instantaneität, ist eines der
       wichtigsten Probleme, die sich heute sowohl den politischen wie den
       militärischen Strategen stellen. Die Echtzeit triumphiert über den realen
       Raum und die Geosphäre. Der Vorrang der Echtzeit vor der Ausdehnung des
       Raums ist eine vollendete Tatsache, die eine neue Ära einleitet. Das läßt
       sich beispielsweise an einer Werbung für Handys ablesen: „Die Erde war noch
       nie so klein“. Ein äußerst folgenreiches Ereignis, das das Verhältnis zur
       Welt und das Weltbild ganz wesentlich verändern wird.
       
       Es gibt drei Mauern: die des Schalls, die der Wärme und die des Lichts. Die
       beiden ersten wurden durchbrochen. Die Schallmauer vom Überschallflugzeug.
       Die Wärmemauer der Atmosphäre von der Rakete, die es den Menschen erlaubt,
       die Erdumlaufbahn zu verlassen und auf dem Mond zu landen. Die dritte
       Mauer, die des Lichts, wird nicht durchbrochen, sondern man begibt sich in
       sie hinein. Dieser Zeitmauer sieht sich die Geschichte heute konfrontiert.
       
       Die Tatsache, daß die Mauer des Lichtes, der Lichtgeschwindigkeit erreicht
       wurde, ist ein historisches Ereignis, das die Geschichte und das Verhältnis
       des Menschen zur Welt völlig durcheinanderbringt, sie ist ein Ereignis, das
       uns desorientiert. Wer dies nicht klar sagt, betrügt oder desinformiert die
       Bürger. Es geht um eine entscheidende Tatsache, die die Geopolitik und
       Geostrategie in Frage stellt, und selbstverständlich auch die Demokratie,
       die immer an einen Ort, an eine Stadt gebunden war.
       
       Was sich mit dieser absoluten Geschwindigkeit für das 21. Jahrhundert
       ankündigt, ist die Erfindung einer Perspektive der Echtzeit. Diese könnte
       die Perspektive des realen Raums ersetzen, wie sie im 15. Jahrhundert von
       den italienischen Künstlern entdeckt wurde. Man ist sich nicht bewußt, wie
       sehr damals die Stadt, die Politik, der Krieg und die Ökonomie der
       mittelalterlichen Welt durch die Erfindung der Perspektive erschüttert
       wurden. Der Cyberspace ist eine neue Form von Perspektive.
       
       ## Neue taktile Perspektive
       
       Wir haben es hier nicht nur mit der visuellen und auditiven Perspektive zu
       tun, wie wir sie alle kennen, sondern mit einer neuen Perspektive, für die
       es keinerlei Vorbild gibt: mit einer taktilen Perspektive. Aus Distanz zu
       sehen oder zu hören, war die Grundlage der visuellen und auditiven
       Perspektive. Aber in der Distanz zu berühren und zu fühlen bedeutet, die
       Perspektive auf einem Gebiet einzuführen, das ihr bislang verschlossen
       blieb: auf dem des Kontakts, des Telekontakts.
       
       Die Entwicklung der Datenautobahnen konfrontiert uns mit einem neuen
       Phänomen: dem der Desorientierung. Es handelt sich dabei um eine ganz
       grundlegende Desorientierung, die zur Deregulierung des Sozialen und der
       Finanzmärkte, deren unselige Folgen wir bereits kennen, hinzukommt und sie
       vollendet. Das Reale läßt sich kaum noch vom Virtuellen unterscheiden. Wir
       bewegen uns auf eine Verdoppelung der sinnlichen Realität zu, auf eine Art
       Stereo-Realität. Das Sein verliert seine Bezugspunkte. Sein heißt in situ
       sein, hier und jetzt, hic et nunc. Genau diese Verortung aber wird vom
       Cyberspace und der globalisierten Realzeit-Information erschüttert.
       
       Was sich hier ankündigt, ist eine traumatische Störung unserer Wahrnehmung
       des Realen. Und dafür sollte man sich interessieren. Warum? Weil es noch
       bei jeder neuen Technik darum gegangen ist, ihre negativen Auswirkungen zu
       bekämpfen. Die wichtigste negative Auswirkung der Datenautobahnen besteht
       eben gerade in der Desorientierung, was das Sich-Gegenüberstehen, das
       Verhältnis zum anderen und das Verhältnis zur Welt betrifft. Es liegt auf
       der Hand, daß diese Desorientierung, diese traumatische Ent-Ortung, nach
       den Individuen auch die Gesellschaft und damit die Demokratie heimsuchen
       wird.
       
       Die repräsentative Demokratie wird sich der Tyrannei der absoluten
       Geschwindigkeit erwehren müssen. Wenn Essayisten begeistert von
       „Cyber-Demokratie“ oder virtueller Demokratie reden, wenn andere uns sagen,
       daß die „Demokratie der Meinungsumfragen“ die Demokratie der Parteien
       ersetzen wird, ist dies bloß ein weiteres Symptom jener Desorientierung im
       politischen Bereich, von der uns im März 1994 Silvio Berlusconis
       Medienputsch in Italien einen Vorgeschmack gab. Die neuen Technologien aber
       werden die Herrschaft der Einschaltquoten und der Meinungsumfragen fördern.
       
       Allein schon der Begriff „Globalisierung“ ist trügerisch. Nicht
       Globalisierung, sondern eine Virtualisierung findet statt. Denn das, was
       das Augenblickliche wirklich globalisiert, ist die Zeit. Die Echtzeit
       bewirkt, daß sich von nun an alles in einer einzigen Zeit abspielt.
       
       Zum ersten Mal also wird sich Geschichte in einer einzigen Zeit abspielen:
       in der Weltzeit. Bisher fand Geschichte in lokalen Zeiten, in lokalen
       Räumen, in Regionen und Nationen statt. Globalisierung und Virtualisierung
       aber führen eine Weltzeit ein, in der sich ein neuer Typus von Tyrannei
       andeutet. Unsere Geschichte ist darum so reich, weil sie lokal ist, weil es
       immer lokale Zeiten gab, während die universelle Zeit nur in der Astronomie
       existierte. Morgen aber wird sich unsere Geschichte in der neuen
       universellen Zeit des Augenblicklichen abspielen.
       
       ## Bisher fand Geschichte in lokalen Zeiten und Räumen statt
       
       Einerseits triumphiert die Echtzeit über den realen Raum; die Distanzen und
       die Ausdehnung verschwinden auf Kosten der – unendlich kurzen – zeitlichen
       Dauer. Andererseits dominiert die Weltzeit von Cyberspace und Multimedia
       die lokalen Zeiten des Alltagslebens in den Städten und Stadtvierteln. Und
       zwar so sehr, daß man davon spricht, den Ausdruck global durch glocal zu
       ersetzen, eine Zusammenziehung aus global und lokal. Man ist der Meinung,
       daß das Lokale zwangsläufig global und das Globale zwangsläufig lokal ist.
       Eine derartige Dekonstruktion des Bezugs zur Welt wird für die Beziehungen
       der Bürger untereinander nicht folgenlos bleiben.
       
       Es gibt keinen Gewinn ohne Verlust. Auch zu den Errungenschaften, die wir
       der Informatik und der Telematik verdanken, wird notwendigerweise ein
       Verlust gehören. Wenn wir den Verlust nicht richtig einschätzen, wird das
       Erreichte wertlos sein. Diese Erfahrung machte man bei der Entwicklung der
       Transporttechnologien. Wenn es heute Hochgeschwindigkeitszüge gibt, so dank
       der Eisenbahningenieure, die bereits im 19. Jahrhundert das Blocksystem
       erfanden, ein Signalsystem zur Steuerung des Verkehrs, das hohe
       Geschwindigkeiten zuläßt, ohne daß es zu Katastrophen kommt. Beim heutigen
       Datenverkehr fehlt hingegen ein Steuerungssystem.
       
       Und: Es gibt keine Information ohne Desinformation. Künftig könnte es eine
       Desinformation neuen Typs geben, die nichts mit absichtlicher Zensur zu tun
       hat: Es handelt sich um eine Art Erstickung des Sinnes, eine Art
       Kontrollverlust der Vernunft. Darin liegt, verursacht durch die Informatik
       und Multimedia, eine weitere große Gefahr für die Menschheit.
       
       Darauf wies Albert Einstein übrigens schon Anfang der fünfziger Jahre hin,
       als er von der „zweiten Bombe“ sprach. Nach der Atombombe die Datenbombe.
       Eine Bombe, bei der die Interaktion in Echtzeit für die Information das
       ist, was die Radioaktivität für die Energie. Der Zerfallsprozeß betrifft
       nicht mehr nur die Elementarteile, aus denen die Materie besteht, sondern
       auch die Personen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Erste
       Kostproben davon liefern die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Telearbeit
       und die Verlagerung von Produktionsstätten.
       
       ## Nach der Atombombe die Datenbombe
       
       So wie die Atombombe sehr rasch ein System der militärischen Abschreckung
       erforderlich machte, um die nukleare Katastrophe zu verhindern, so wird die
       Datenbombe im 21. Jahrhundert eine neuartige Abschreckung erforderlich
       machen, eine gesellschaftliche Abschreckung, um sich gegen die Schäden der
       allgemeinen Informations-Explosion zu wappnen. Diese Explosion wird der
       künftige GAU sein, der die Serie typischer Unfälle des industriellen
       Zeitalters erweitert. (Als der Zug, das Flugzeug, das Schiff und das
       Kernkraftwerk erfunden wurden, „erfand“ man gleichzeitig die Entgleisung,
       den Absturz, den Schiffbruch und die Havarie von Tschernobyl...)
       
       Mit der fortschreitenden Globalisierung der Telekommunikation muß man sich
       auf einen Generalunfall gefaßt machen, auf einen noch nie gesehenen Unfall,
       ebenso überraschend wie die Weltzeit, diese noch nie gesehene Zeit. Auf
       einen Generalunfall, der ein wenig dem gleichen könnte, den Epikur den
       „Unfall der Unfälle“ nannte. Der Börsenkrach gibt einen kleinen
       Vorgeschmack davon.
       
       Wie der Generalunfall aussehen wird, wissen wir noch nicht. Doch wenn man
       in der Wirtschaft von „Seifenblasen der Spekulation“ spricht, verwendet man
       eine bezeichnende Metapher, denn der Ausdruck läßt einen an eine Wolke
       denken, die andere Wolken in Erinnerung ruft, beunruhigende, wie die von
       Tschernobyl...
       
       ## Revolution auf militärischem Gebiet
       
       Stellt man sich die Frage der Unfallrisiken auf den Datenautobahnen, so
       geht es nicht um die Informationen, sondern um die absolute
       Geschwindigkeit, mit der sie übertragen werden: Es geht um die Interaktion.
       Nicht die Informatik, sondern die Telematik wirft die Probleme auf. In den
       USA spricht das Pentagon, der Erfinder des Internet, in dieser Hinsicht
       bereits von einer wahren „Revolution auf militärischem Gebiet“. Und sogar
       von einem „Wissenskrieg“, der den Bewegungskrieg verdrängen könnte, so wie
       dieser einst den Belagerungskrieg verdrängte, der in Sarajevo einen
       tragischen Atavismus darstellt.
       
       Als General Eisenhower 1961 das Weiße Haus verließ, erklärte er, daß der
       militärisch-industrielle Komplex „eine Gefahr für die Demokratie“ sei. Er
       wußte, wovon er sprach, da er an seiner Entwicklung maßgeblich beteiligt
       war. Heute, 1995, entsteht vor unseren Augen ein
       industriell-informationeller Komplex, und einige führende Politiker
       Amerikas, insbesondere Ross Perrot und Newton Gingrich, sprechen von
       „virtual democracy“ in einem Ton, der an mystischen Fundamentalismus
       gemahnt. Wie sollte man da nicht alarmiert sein? Wie sollte man da nicht
       die Gefahr einer tatsächlichen sozio-politischen Kybernetik wittern?
       
       Die Technologien der Virtualisierung besitzen eine unvergleichliche
       Suggestivkraft. Neben dem alten Drogenkapitalismus, der ein
       destabilisierendes Element der Weltwirtschaft darstellt, bildet sich ein
       Drogenkapitalismus der elektronischen Medien heraus.
       
       Man kann sich sogar fragen, ob die entwickelten Länder ihre Technologien
       der Virtualisierung nicht mit dem Ziel entwickeln, den unterentwickelten
       Ländern, die, vor allem in Lateinamerika, mehr schlecht als recht vom
       Drogenhandel leben, das Wasser abzugraben. Wenn man sieht, wie sehr die
       Spitzentechnologien gerade im „Game-Bereich“ Anwendung finden (Videospiele,
       Cyberspacehelme und so weiter), fühlt man sich da nicht an Techniken
       erinnert, mit denen schon früher die Bevölkerung unterdrückt und bei Laune
       gehalten wurde?
       
       Eine Art „Cyberkult“ kündigt sich an. Die neuen Technologien werden jedoch
       nur dann zur Verbesserung der Demokratie beitragen können, wenn wir
       zunächst jenes Zerrbild von Weltgesellschaft bekämpfen, das den
       multinationalen Konzernen vorschwebt, die mit einer
       Wahnsinnsgeschwindigkeit den Bau der Datenautobahnen vorantreiben.
       
       Aus dem Französischen von Andreas Knop 
       
       Dieser Text erschien im August 1995 in LMd.
       
       11 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Virilio
       
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