URI: 
       # taz.de -- Sechs Monate nach dem Anschlag in Halle: Deutscher Normalzustand
       
       > Im Oktober wollte ein Neonazi einen antisemitischen Massenmord verüben,
       > er tötete zwei Menschen. Dass das fast vergessen ist, liegt nicht an
       > Corona.
       
   IMG Bild: Wenige Tage nach dem Attentat in Halle: Blumen und Kerzen vor der Synagoge
       
       Ein kurzer Blick auf die Startseiten der großen Medienportale und die Laune
       ist im Keller. „Angst ums Geld – Der Sparfuchs-Talk in der Corona-Krise“
       titelt Bild.de am Donnerstagvormittag. Bei der FAZ kritisieren sieben
       Gesundheitsexperten die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung im Kampf
       gegen das Virus. Der erste Artikel, der einem auf der Startseite des
       Tagesspiegels angezeigt wird, fragt: „Wohin dürfen Berliner über die
       Feiertage noch fahren?“ Seit über zwei Wochen sehen die Titelseiten nun so
       aus. [1][Corona hier, Corona da], Corona in Amerika. Und es ist
       nachvollziehbar, die „Krise hält weiter unser Land in Atem“, würde
       irgendein Ulf Poschardt-Zögling vermutlich schreiben.
       
       Worüber viele Medien verhältnismäßig wenig schreiben, ist ein Thema, das
       theoretisch genauso oft durchgekaut wurde wie die Podcasts von Christian
       Drosten. Rechtsextremismus nennt sich das Gespenst, das da durch
       Deutschland zieht, seit eh und je. Das ist natürlich nicht so aufregend wie
       eine weltweite Pandemie. Die Pandemie hatten wir jetzt eine ganze Weile
       schon nicht mehr, Rechtsextremismus in Köpfen, Medien, Parlamenten und
       Behörden – das ist doch jetzt so langsam wirklich allen klar. So ist es
       halt. Da kann man doch Petitionen teilen und einmal im Jahr eine
       Großdemonstration besuchen.
       
       Ja, okay, wir wissen alle, dass [2][der NSU nicht zu dritt war]. Und
       eigentlich hat auch jeder mitbekommen, dass der [3][Verfassungsschützer
       Andreas Temme] bei einem der Morde anwesend war. Das ist übrigens der
       gleiche Mann, der bis heute frei herumläuft und auch im [4][Fall Lübcke]
       eine Rolle spielt. Das war dieser CDU-Politiker, dem aus nächster Nähe in
       den Kopf geschossen wurde. Ach, und im Lübcke-Fall wurde vor wenigen Tagen
       bekannt, dass Akten, die den Täter in einem anderen Fall belasten, mal
       wieder verschwunden sind.
       
       Das könnte damit zusammenhängen, dass regelmäßig rechte Akteure und
       Netzwerke in Polizei und Militär entdeckt werden. Ist aber nur eine
       Vermutung. Kennen wir ja auch alles, der Leser von heute will lieber
       wissen, ob in Südkorea die Fallzahlen um 0,4 Prozent gefallen sind, wie man
       während der Coronakrise ein Spanferkel grillt und ob Julian Reichelt der
       Meinung ist, dass wir die aktuelle Polizeiwillkür nach der Pandemie einfach
       aufrechterhalten sollten. (Spoiler: Ja, ist er). Corona-News, rein in
       meinen Schlund. Bis ich vor lauter Angst kotze.
       
       ## Rechtsextreme Exzesse
       
       Aber heute, wenigstens heute, könnte es doch mal um etwas anderes gehen.
       Denn heute vor sechs Monaten, also einem halben Jahr, lief ein [5][Neonazi
       durch eine deutsche Stadt und jagte Juden]. Als die Tür der anvisierten
       Synagoge in Halle an der Saale nicht nachgab, suchte er sich zwei
       Zufallsopfer. Eine Passantin und den Gast eines Döner-Imbisses: Jana L. und
       Kevin S.. Die Realität ist ganz simpel: 2019 war ein Jahr der
       rechtsextremen Exzesse, 2020 fing nicht anders an.
       
       Die [6][Zahl der rechtsextrem motivierten Straftaten] ist im Jahr 2019
       gestiegen, das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine
       Anfrage der Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic hervor. Es gab letztes Jahr
       fast 1.000 versuchte und vollzogene Gewalttaten wie Körperverletzung und in
       Einzelfällen auch Tötungsdelikte mit rechtsextremem Hintergrund.
       
       Als wäre diese Zahl nicht wahnwitzig genug, muss man davon ausgehen, dass
       die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist. Titelseiten ist das längst
       nicht mehr wert. Doch auch in Zeiten einer Pandemie muss derer gedacht
       werden, die starben. Müssen jene unterstützt werden, die gegen die Zustände
       ankämpfen. Und muss angekämpft werden gegen alle, die die alltägliche
       rechte Gewalt und die zunehmenden Mordserien verharmlosen wollen.
       
       Es ist eine bequeme Ausrede, anzunehmen, dass wir Halle und Hanau und all
       die anderen Fälle aufgrund der Corona-Welle nicht mehr richtig wahrnehmen.
       Aber wäre es anders, wenn wir im Normalzustand leben würden? Oder ist
       Verdrängung und Vertuschung nicht von Haus aus deutscher Normalzustand?
       
       9 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
   DIR [2] /Gedenkbaum-in-Zwickau-abgesaegt/!5631305
   DIR [3] /Verfassungsschutz-und-NSU/!5365072
   DIR [4] /Schwerpunkt-Mordfall-Walter-Luebcke/!t5600830
   DIR [5] /Antisemitismus-nach-dem-Halle-Anschlag/!5642816
   DIR [6] /Statistik-der-Polizei/!5677410
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juri Sternburg
       
       ## TAGS
       
   DIR Halle
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Antisemitismus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Datenschutz
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
   DIR Opfer rechter Gewalt
   DIR Rechte Gewalt
   DIR Kolumne Habibitus
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Stars auf Verschwörungskurs: Nun auch noch Sido
       
       Nun nascht auch Rapper Sido von der Verschwörungssuppe. Das ist komisch und
       tragisch. Die Linke darf es sich nicht bequem machen.
       
   DIR Revisionen im NSU-Verfahren: Viel Arbeit, wenig Zeit
       
       Seit Dienstag liegt das schriftliche NSU-Urteil vor, nun schreiben die
       VerteidigerInnen an den Revisionen. Dafür gilt eine knappe Frist.
       
   DIR Online-Konferenzen gestört: Hitler-Fotos bei Holocaust-Gedenken
       
       Antisemit*innen haben mehrere digitale Holocaust-Gedenkveranstaltungen in
       Deutschland gestört. Dabei zeigten sie Hakenkreuze und Hitler-Bilder.
       
   DIR Urteilsbegründung im NSU-Prozess: 3.025 Seiten Schuldspruch
       
       21 Monate nach dem NSU-Urteil legt das Oberlandesgericht München jetzt die
       schriftlichen Urteilsgründe vor. Nun sind die Verteidiger am Ball.
       
   DIR Anklage gegen Terroristen von Halle: „Wir müssen Lehren ziehen“
       
       Nach der Anklage zum Anschlag in Halle zeigt sich die jüdische Gemeinde
       erleichtert. Der Gerichtsprozess könne helfen, Antisemitismus zu bekämpfen.
       
   DIR Hanau-Tatort mit Steinen beworfen: „Ein abscheulicher Angriff“
       
       Unbekannte haben die Scheiben einer Hanauer Bar eingeworfen, in der im
       Februar Menschen erschossen wurden.
       
   DIR Tödlicher Angriff auf Iraker in Celle: Rassistischer Hintergrund?
       
       Nach dem Mord an einem Kurden in Celle sind viele Fragen offen. Eine davon:
       Ignorierte die Polizei Hinweise auf einen politischen Hintergrund?
       
   DIR Rechte Gewalt in Ostdeutschland: „Die Angst wächst“
       
       Verbände für Opfer rechter Gewalt zählen für das Jahr 2019 über 1.000
       Angriffe. Mit der Rechtsterrorwelle und der Corona-Pandemie drohe neuer
       Hass.
       
   DIR Rechtsextreme Gewalt: Die Hunde Deutschlands
       
       Chemnitz, Hanau oder die NSU-Morde. Rechte Gewalt ist in Deutschland
       allgegenwärtig. Daran sind auch die Kompliz_innen des Faschismus schuld.
       
   DIR Kiez-Döner in Halle wiedereröffnet: „Die beste Form der Solidarität“
       
       40 Tage nach dem rechtsextremen Anschlag in Halle haben die Brüder Tekin
       ihr Dönerrestaurant wiedereröffnet. Das Gedenken an die Opfer bleibt.