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       # taz.de -- Umstrittener Kleriker in der Türkei: Homophobie von Erdoğans Gnaden
       
       > Der türkische Präsident stärkt einem homophoben Kleriker den Rücken. Der
       > macht indirekt Homosexuelle für die Corona-Pandemie verantwortlich.
       
   IMG Bild: Erdoğan und der Prediger Ali Erbaş bei der Eröffnung einer Moschee in Istanbul 2019
       
       Istanbul taz | Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich am
       Montag hinter den Chef der obersten Religionsbehörde gestellt, der zur
       Eröffnung des [1][Fastenmonats Ramadan] mit einer Hass-Predigt gegen
       Schwule und Lesben für Aufsehen gesorgt hatte.
       
       Homosexualität, Unzucht, das Zusammenleben von Mann und Frau ohne
       verheiratet zu sein – all das führe zur Verrottung der Gesellschaft und
       letztlich auch zu Krankheiten und Seuchen, hatte Ali Erbaş in einer
       geradezu mittelalterlich anmutenden Hass-Predigt am Freitag behauptet.
       Indirekt machte er damit Schwule und Lesben für die [2][Coronaepidemie] in
       der Türkei verantwortlich. Als Vorsitzender der staatlichen
       Religionsbehörde Dianet ist Erbaş der oberste Islam-Vertreter in der
       Türkei.
       
       In der Hauptmoschee von Ankara sprach Erbaş – vor leeren Rängen, aber in
       diverse Fernsehkamaras – über die schlimmen Folgen von Homosexualität und
       Unzucht und forderte alle Muslime im Land auf, sich zusammenzutun und ihre
       Mitmenschen vor solchen Versuchungen des Teufels zu schützen.
       
       In einer Erklärung wandte sich daraufhin die altehrwürdige Anwaltskammer
       von Ankara scharf gegen die Predigt von Ali Erbaş. Sie verurteilte den Hass
       auf Schwule, Lesben und die gesamte LGBT-Gemeinde, die der oberste
       lslam-Prediger mit seinen Worten schüren würde. Erbaş solle seine Worte
       zurücknehmen.
       
       ## Ermittlungen gegen Anwaltskammer
       
       Eine Reaktion auf die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Die
       Religionsbehörde zeigte die Anwaltskammer bei der Generalstaatsanwaltschaft
       an. Der Vorwurf: Die Anwaltskammer verbreite Hassreden gegen die Religion.
       Tatsächlich nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die
       Anwaltskammer, der nun vorgeworfen wird, sie betreibe eine „Öffentliche
       Herabwürdigung religiöser Werte eines Teils der Gesellschaft“.
       
       Am Montagabend dann schaltete sich Erdoğan im Anschluss an eine
       Corona-Kabinettssitzung in die Auseinandersetzung ein. „Ali Erbaş ist
       völlig korrekt“, sagte er. „Für den Islam ist Homosexualität eine schwere
       Sünde. Es ist daher seine Pflicht, auf die Aufgaben der Gläubigen
       hinzuweisen. Da Ali Erbaş der Vorsitzende der Religionsbehörde ist, ist ein
       Angriff auf ihn deshalb auch ein Angriff auf den Staat“.
       
       Zwar relativierte Erdoğan seine Aussagen, indem er anfügte, die Gebote des
       Islam würden natürlich nur für Muslime gelten, doch sind in der Türkei –
       zumindest auf dem Papier – 98 Prozent der Bevölkerung muslimisch.
       
       ## Gespaltene Gesellschaft
       
       Die Auseinandersetzung macht deutlich, wie tief in der Türkei der Graben
       zwischen den islamistischen Vertretern der sunnitischen Mehrheit und den
       Republikanern im Land ist. Nicht nur die regierungsnahen Zeitungen, auch
       konservative Parteipolitiker, die sich sonst in Opposition zu Erdoğan
       befinden, verteidigten den Prediger.
       
       So verurteilte Ahmet Davutoğlu als Vorsitzender der [3][Zukunftspartei, die
       sich im letzten Herbst von der AKP Erdoğans abgespalten hatte] und seitdem
       versucht, sich einen gesellschaftspolitisch progressiveren Anstrich zu
       geben, nicht etwa die Predigt von Ali Erbaş, sondern die Anwaltskammer. In
       einer Pressemitteilung erklärte er: „Wir verurteilen die Attacke einer
       Minderheit auf die Werte der Gläubigen“.
       
       Der Vorsitzende der religiösen Saadet-Partei, Temal Karamollaoğlu, der bei
       der letzten Wahl noch mit der säkularen Republikanischen Volkspartei CHP
       eine Koalition gegen Erdoğan gebildet hatte, sagte: „Die Prinzipien des
       Islam und die daraus resultierenden Familienwerte dürfen nicht als
       Hass-Kriminalität bewertet werden“.
       
       Lediglich die CHP verteidigte die Anwaltskammer. Ihr Sprecher Faik Öztrak
       erklärte: „Die Gläubigen haben das Recht zu glauben, was sie wollen, aber
       sie sollen keine Hass-Reden halten und andere zu Feinden der Gesellschaft
       abstempeln“.
       
       28 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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