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       # taz.de -- Coronavirus in Russland: Gottesmutter im Autokorso
       
       > Lange nahm die Orthodoxe Kirche die Pandemie nicht ernst und
       > veranstaltete weiter Messen. Jetzt schnellen die Infektionszahlen nach
       > oben.
       
   IMG Bild: Patriarch Kirill in Anti-Corona-Mission, mit der heiligen Ikone auf dem Rücksitz
       
       Moskau taz | Es war noch ein letzter Versuch des Moskauer Patriarchats, die
       Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Lange hatte Russlands Orthodoxe
       Kirche (ROK) das Virus auf die leichte Schulter genommen. Erst Anfang
       April, [1][als staatliche Stellen schon Quarantäne und Zwangsurlaub
       anordneten], griff der Patriarch zum letzten Heilmittel: Mit einem
       Autokorso über den Moskauer Autobahnring wollte er das Virus in die
       Schranken weisen.
       
       Etwas mehr als zwei Stunden dauerte die Fahrt um die Hauptstadt. In vier
       Limousinen brach die orthodoxe Fahrgemeinschaft auf. In einem der Wagen war
       die Ikone der Gottesmutter „umilenie“ (Rührung) untergebracht. Die Größe
       der Reliquie verlangte für den Transport ein eigenes Vehikel. Schließlich
       sollte sie die Stadt von der Plage befreien. Die getönten Scheiben der
       Wagen verrieten nicht, wer in welchem Auto Platz genommen hatte.
       
       Die Rettungsaktion konnte die Stadt vor Schlimmerem jedoch nicht bewahren.
       [2][Erst jetzt erreicht die Coronapandemie ein beunruhigendes Ausmaß in
       Russland]. Über 2.700 Neuinfizierte wurden am Dienstag gemeldet, ein
       sprunghafter Anstieg.
       
       Patriarch Kirill sprach zuletzt von einer Vorsehung Gottes, die die Welt
       heimgesucht hätte. Dem kann sich der Gläubige nicht entziehen. Theologische
       Feinheiten dieser Vorsehung erläuterte der 73-jährige Patriarch jedoch
       nicht in der Öffentlichkeit.
       
       ## Coronavirus als gerechte Strafe
       
       Vielmehr klang es nach einem Verdikt, was der Patriarch ansprach, [3][einer
       gerechten Strafe, die über die Menschheit hereinbreche]. Viele Moskauer
       verschreckte die abgeklärte Schicksalsergebenheit des Patriarchen.
       
       Schon im Vorfeld der Epidemie hatte Professor Alexei Osipow von der
       Geistlichen Akademie in Moskau seine Version der Katastrophe im religiösen
       Kanal der ROK kundgetan: Der 82-jährige Theologe deutete die Heimsuchung
       als göttliche Strafe für schandhafte Taten der westlichen Welt. Dies sei
       eine Anspielung auf die Erlaubnis zur Eheschließung unter homosexuellen
       Partnern, erläuterte Andrei Kurajew später, ein streitbarer Diakon der
       orthodoxen Kirche.
       
       Auch wenn ROK und weltliche Macht die Freizügigkeit verurteilen, dem
       göttlichen Willen entkommen sie nach dieser Lesart auch nicht.
       
       Die ROK zögerte lange, wie sie mit der Coronabedrohung in den Gotteshäusern
       umgehen solle. Viele Priester und höhere Würdenträger weigerten sich
       zunächst, Maßnahmen zum Schutz der Gläubigen zu erlassen. Wer wirklich des
       Glaubens sei, den verschone die ansteckende Krankheit, meinten viele
       Kirchgänger und werteten anhaltende Gesundheit gewissermaßen als
       Gottesbeweis.
       
       Trotz Ansteckungsgefahr beugten sich Gläubige noch im März in der
       Petersburger Kasan-Kathedrale über die Reliquien Johannes des Täufers. Die
       Orthodoxie in Jerusalem hatte die sterblichen Überreste vor Ostern nach
       Russland überstellt. Hunderte pilgerten täglich zum eingeflogenen Schrein,
       um von den Reliquien Stärkung zu erlangen. Auch Warnungen schreckten
       Bittsteller nicht ab, die vorher in endlosen Schlangen ausgeharrt hatten.
       
       Sie neigten sich über die Ikone, berührten mit den Lippen das Glas, küssten
       das Kreuz oder auch die Hände des Geistlichen. Ein Messdiener wischte mit
       einem Tuch gelegentlich über feuchte Stellen. Mal soll es ein ölgetränkter,
       mal ein mit Desinfektionsmittel besprühter Stoff gewesen sein. Unregelmäßig
       geschah es jedoch und nicht flächendeckend. Hunderte und Aberhunderte
       müssen am Tag die Nähe des Göttlichen gesucht haben.
       
       ## Messwein aus Einwegbechern
       
       Moskau zeigte lange keine Reaktion. Weder ordnete es Vorbereitungen für die
       Quarantäne an noch bereitete es Gemeinden auf die Bedrohung vor. Bis
       zuletzt war der für die Außenbeziehungen des Patriarchats zuständige
       Metropolit Ilarion überzeugt, alle Oster- und Fastenmessen könnten trotz
       Bedrängnis gefeiert werden. Dabei sollten nur die neuen Hygieneregeln
       gelten, die Patriarch Kirill inzwischen erlassen hatte: Die Kirchgänger
       sollen darauf verzichten, Ikonen, Kreuze und Hände des Priesters zu küssen.
       Die Heilige Kommunion, die mit einem Gemeinschaftslöffel gereicht wird,
       verlangt nun, dass der Löffel nach jedem Gläubigen desinfiziert wird.
       Messwein wird in Einwegbechern und Hostien werden mit Gummihandschuhen
       gereicht.
       
       Ilarion appellierte an die Gläubigen, sich strikt an die Schutzmaßnahmen zu
       halten. Auch der Patriarch blieb während des großen Fastens vor Ostern
       erstmals einem Sonntagsgottesdienst fern. Doch abgesehen von diesen
       verspäteten Maßnahmen blieb die Reaktion der Kirche alles in allem eher
       zurückhaltend, urteilt Diakon Kurajew. Die ROK musste handeln, ansonsten
       hätte sie mit Strafmaßnahmen seitens des Staates rechnen müssen, mutmaßt
       der Theologe.
       
       Die Orthodoxie reagierte als eine der letzten Glaubensgemeinschaften. Erst
       warnte das griechische Patriarchat in Konstantinopel, dann folgte die
       katholische Kirche. Rabbiner schlossen Synagogen und isolierten die
       Klagemauer in Jerusalem. Auch der Vorsitzende der islamischen Geistlichkeit
       in Russland forderte Muslime auf, zu Hause zu beten, statt in die Moschee
       zu kommen.
       
       Moskaus Patriarchat ordnete erst danach Verschärfung an. „Im Nachhinein
       sieht es aus, als handle die Kirche nicht aus Sorge und Gewissensgründen,
       sondern weil es die Politik verordnete.“ Wird sich die Kirche von diesem
       Stigma wieder befreien können?, fragt Kurajew.
       
       ## Ostern sollte verschont bleiben
       
       Die Kirche handelte, als sie keinen Ausweg mehr sah. Auch Russlands
       politische Führung wollte den Vormarsch der Pandemie zunächst nicht
       erkennen. Die ROK wartete indes noch länger. Ostern als wichtigstes und
       fröhlichstes Fest der Orthodoxie sollte möglichst verschont bleiben.
       
       Beim Vorgehen der Kirche treffen unterschiedliche Motive aufeinander. Die
       Orthodoxie ist in Russland mit dem Staat in einer „Symphonia“, einer
       Harmoniegemeinschaft, verbunden und lehnt sich eng an Vorgaben der
       weltlichen Herrschaft an. Selten wagt der Klerus unerlaubte
       Grenzüberschreitungen.
       
       Dennoch – oder gerade deswegen – achtet die Kirche genauestens auf
       Regelverletzungen staatlicherseits. Übergriffe werden als Eingriffe in die
       klerikale Souveränität gewertet. Viele Würdenträger waren erbost über die
       „von außen“ verhängten Einschränkungen und Auflagen. Manche befürchteten,
       die Kirche könnte weiter an Vertrauen verlieren. Trotz aller Unbill bleibt
       die politisch-religiöse Harmonie jedoch Leitmotiv der ROK.
       
       ## Befehl und Unterordnung
       
       Nicht zu unterschätzen ist überdies die Macht des Aberglaubens, der in
       Russland mit dem Glauben eine eigentümliche Liaison eingeht.Manchmal
       scheint es, als suche er die ROK stärker heim als andere christliche
       Gemeinschaften.
       
       In der historischen Rückblende spielen auch Gewaltbereitschaft und
       Uneinsichtigkeit bei den Gläubigen eine gewisse Rolle. Bei manchem
       Kirchenvater mag die Erinnerung noch lebendig sein. Patriarch
       Sertis-Kamenskij bezahlte dies mit dem Leben: Während eines Pestausbruchs
       in Moskau ließ er 1771 den Zugang zu einer beliebten Ikone sperren. Das
       Volk erhoffte sich Heilung. Der untadelig beleumundete und hochgebildete
       Patriarch ließ die Ikone indes aus der Kirche entfernen. Gerade an ihr
       hatte sich das Volk infiziert. Die wütende Menge wollte dem Kirchenmann das
       Verbot jedoch nicht verzeihen und lynchte ihn zu Tode.
       
       Kirche und Politik trauen dem Volk in Russland nicht über den Weg – bis
       heute. Sie behandeln das Land, als kenne es nur Befehl und Unterordnung:
       Die Kirche fürchtet, Anhänger zu verlieren, sollte sie härtere Maßnahmen
       verordnen. Der Kreml argwöhnt, ohnehin hätten die Bürger es nur darauf
       abgesehen, wider den Stachel zu löcken und Verbote zu missachten.
       
       Einige Priester begegnen dem Kirchenvolk inzwischen mit etwas Nachsicht.
       Sie plädieren dafür, das Fasten zu erleichtern. Schon der zwangsverordnete
       Hausarrest gleiche einem Martyrium, behaupten viele. Die Kirche dürfe
       während der Pandemie nicht noch mehr Probleme schaffen, mahnt auch Kurajew.
       
       In der Karwoche werden Moskau und Sankt Petersburg nun doch die Tore der
       Kirchen für Besucher schließen. Vom 14. bis zum 19. April erstreckt sich
       das Verbot. Dem war ein Sonntag vorausgegangen, der Palmsonntag, an dem die
       Menschen landauf, landab Kirchen geradezu erstürmten. Auch die für Besucher
       geschlossenen Friedhöfe konnten sich des Ansturms nicht erwehren. Friedhöfe
       sind zurzeit nur noch für Beerdigungen zugänglich. Auch deren üblicher
       Besuch vor Ostern musste ausfallen. Dennoch kletterten viele Menschen über
       Zäune und durch Gitter.
       
       Der Tadel der Politik erfolgte sofort, noch in den Abendnachrichten: Klagen
       über das undisziplinierte Volk ersetzten Berichte über Engpässe der sich
       ausweitenden Coronapandemie.
       
       15 Apr 2020
       
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       ## AUTOREN
       
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