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       # taz.de -- US-Musiker Moses Sumney: Alleine sein als Privileg
       
       > Der US-Künstler Moses Sumney erforscht mit dem tollen Album „græ“ das
       > Alleinsein, passend zum Zeitalter des Social Distancing.
       
   IMG Bild: Einsamkeit als produktiver Zustand: Moses Sumney
       
       Derzeit ist es nicht der sprichwörtliche „Niemand“, der eine Insel ist. Im
       Gegenteil, seit Corona sind wir alle Inseln. Denn wir müssen Abstand
       zueinander halten. „Isolation comes from ‚insula‘ which means island.“ Der
       Satz wird gleich viermal im programmatischen Auftaktsong von Moses Sumney
       Album „græ“ wiederholt. Dem eklektischen kalifornischen Kammerpopmusiker
       mit ghanaischen Wurzeln ist damit so etwas wie das definitive Werk zur
       Coronakrise gelungen.
       
       Schließlich kommt man im Zeitalter des Social Distancing am Nachdenken
       übers Alleinsein kaum vorbei. Wobei für Sumney Isolation ein Zustand ist,
       den er durchaus schätzt. Und zugleich das Thema, das sich als roter Faden
       durch sein Schaffen zieht. Schon auf seinem Debüt „Aromanticism“ (2017)
       leuchtete der 28-Jährige aus, wie sich ein Leben anfühlt, wenn man sich für
       Zweisamkeit nicht interessiert, und das in dieser auf romantische Liebe
       fixierten Welt.
       
       „Die Leute sagen gerne: ‚Ich bin allein, einsam bin aber ich nicht.‘ Damit
       sind sie nicht ehrlich zu sich selbst. Ich jedenfalls fühle mich oft einsam
       – mag das Alleinsein aber trotzdem. Für mich als Künstler ist Einsamkeit
       ein produktiver Zustand – nicht zuletzt, weil es ein glaubwürdiges Gefühl
       ist, das mir erlaubt, Gedanken zu sortieren, mit mir selbst in engen
       Kontakt zu kommen“, erzählt Moses Sumney im Gespräch anlässlich der
       Veröffentlichung seines Doppelalbums: Teil eins ist vor Kurzem erschienen,
       Teil zwei folgt im Mai.
       
       ## Dicht und komplex
       
       Für diese Zweiteilung hat er sich entschieden, weil das Gesamtpaket seine
       HörerInnen überfordern würde, so dicht und komplex, wie es sei. Er wolle
       ihnen Zeit geben, sich angemessen damit zu beschäftigen. Bescheidenheit ist
       Sumneys Sache nicht. Am Tag des Interviews schließen in Deutschland die
       Schulen, das öffentliche Leben wird peu à peu heruntergefahren.
       
       Einerseits, erzählt Sumney, nerve ihn die Ausnahmesituation, schließlich
       habe er in den nächsten Wochen viel vor: Konzerte, Videoproduktionen, was
       um eine Veröffentlichung eben an Promotion stattfindet. Andererseits
       beobachtet er mit einer gewissen Faszination, wie vermutlich viele in
       diesem frühen Stadium des Shutdowns, was passiert, wenn ganze
       Gesellschaften in die Isolation geschickt werden.
       
       Künftig zu viel Zeit alleine verbringen zu müssen, davor fürchtet sich der
       US-Künstler nicht. Diesen Zustand findet er grundsätzlich anregend: „Ich
       lerne am meisten, wenn ich allein bin – über mich und über die Gesellschaft
       als Ganzes. Selbst wenn ich mich einsam fühle, mag das zwar nicht toll
       sein, aber ich bin doch dankbar, dieses Gefühl zu erfahren.“ Allein zu
       sein, so Sumney, sei ein Privileg: „Nicht jeder hat die Chance, den nötigen
       Mut oder die finanziellen Mittel.“ Es steckt einiges an Pathos in dieser
       Behauptung: Eine archaische, romantische Projektion auf die Existenz des
       Künstlers, der quasi abgeschieden und unbehelligt von der Welt aus sich
       selbst schöpft.
       
       ## Aus Not eine Tugend machen
       
       Vielleicht hat Sumney einfach aus der Not eine Tugend gemacht. Seine Jugend
       verbrachte er in Ghana und in Los Angeles. Inzwischen lebt er im Hippienest
       Asheville, North Carolina – in freiwilliger Abgeschiedenheit. Seine Eltern,
       ghanaische Einwanderer, arbeiten in den USA als Pastoren und gingen
       berufsbedingt für einige Jahre in die alte Heimat. Sumney verbrachte dort
       unglückliche Teenagerjahre, von Mitschülern wie Lehrern geschnitten,
       schließlich sprach er nicht mal die lokale Sprache. Er blieb „der
       Amerikaner“ und klammerte sich an alles, was ihn als solchen auswies: seine
       Indiepop-Sozialisation etwa. Zurück in Kalifornien studierte er Creative
       Writing und machte ein Praktikum in einer Werbeagentur, die auf
       Markenpflege spezialisiert war – zwei Koordinaten, deren Spannbreite sein
       Schaffen bis heute umreißt.
       
       In Sachen Selbstinszenierung überließ Sumney nichts dem Zufall. Mitte der
       zehner Jahre begann er, an seinem soulig-elektronischen Kammerpop zu
       feilen; schnell wurde er zum heißen Ding, Major-Labels begannen, sich für
       ihn zu interessieren. Doch Sumney zog die Handbremse, schlug lukrative
       Angebote aus und landete beim US-Indielabel Jagjaguwar. Als ihm dann nach
       Veröffentlichung seines Debütalbums Los Angeles zu rummelig, sein sozialer
       Zirkel zu prominent wurde – unter anderem tauchte er öfter im Instagramfeed
       von Solange Knowles auf –, zog er von der US-Westküste nach North Carolina.
       Und freut sich seither daran, dass in Asheville so gut wie nix los ist.
       
       Seine Fokussiertheit hat sich gelohnt. Das neue Album „græ“ stellt
       gegenüber dem auch schon ziemlich tollen Debüt „Aromaticism“ einen
       Quantensprung dar. Sumneys Fusion von Soul, Artpop, Jazz, Elektronik und
       Spoken Word hat nicht nur dank seines kunstvoll mäandernden Falsetts hohen
       Wiedererkennungswert, sondern auch, weil seine Stücke eine eigenwillige
       Spannung aufbauen: Sie sind elegisch und dynamisch zugleich,
       klaustrophobisch und explosiv.
       
       ## Fehlendes Verlangen nach Interaktion
       
       „In unserer Kultur, besonders in der digitalen, lag in den letzten 15
       Jahren der Schwerpunkt darauf, zu netzwerken – was allzu oft keine reale
       Verbindung ist. Vielen Menschen ist die Fähigkeit abhanden gekommen, allein
       mit sich und ihren Gedanken zu sein.“ Wie schon beim Vorgänger, der sich
       der Aromantik widmete, also dem fehlenden Verlagen nach romantischer
       Interaktion, hat auch das neue Album ein konkretes Thema: Es handelt von
       der Isolationsgrundierung.
       
       Der Albumtitel bedeutet „grau“. Es geht um Binäres, Zwischenräume und
       Grauzonen – und Identitäten als soziales Gefängnis. „I insist on my right
       to be multiple“, heißt es nebst ausführlicher Begründung in „also also also
       and and AND“, was sich als programmatische Ansage lesen lässt. In dem von
       einem elektronischen Stakkato vorangetriebenen, zugleich in ein
       pulsierendes Wabern eingebetteten „boxes“ sind dann fünf Künstlerfreude
       Sumneys zu hören, unter anderem der Schriftsteller Michael Chabon und der
       Schauspieler Ezra Miller.
       
       Sumney hat sie zu Identität und Individualität befragt hat und lässt sie
       trotzdem mit einheitlicher Stimme reden: Ihre eigenen Stimmen sind so
       nachbearbeitet, dass sie identisch klingen: „Dissatisfaction seems like the
       natural byproduct of identification / I truly believe that people who
       define you control you“, heißt es an einer Stelle – vielleicht eine
       Einsicht, die sich einstellt, wenn man Abstand nimmt von sozialen
       Zusammenhängen.
       
       So verkopft „græ“ auf konzeptueller Ebene klingen mag: Moses Sumneys neues
       Album erweist sich nicht nur als ideendichte Angelegenheit, sondern auch
       als musikalische Wundertüte: vollgestopft, aber eingängig genug, um
       zugänglich zu sein.
       
       16 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
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