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       # taz.de -- Roman „Ich an meiner Seite“: Hauptfigur des eigenen Lebens
       
       > Die Bachmannpreis-Trägerin Birgit Birnbacher erzählt von Menschen, die
       > vor allem funktionieren sollen. Mit bitteren Pointen.
       
   IMG Bild: Birgit Birnbacher, Autorin aus Österreich, freut sich über den Ingeborg-Bachmann-Preis 2019
       
       Manche Freiheit ist gar keine. 26 Monate hat Arthur im Gefängnis verbracht,
       und kaum ist er entlassen, steht der junge Mann wieder vor verschlossenen
       Türen. Ohne Arbeit gibt es kein regelmäßiges Einkommen und damit keinen
       Mietvertrag.
       
       Wahrscheinlich würde Arthur, der gerade mal 22 Jahre alte Antiheld, nach
       kurzer Zeit wieder kriminell werden, wenn es nicht die Bewährungshilfe, ein
       Wohnprojekt für Haftentlassene und den unkonventionellen Therapeuten
       Konstantin Vogl gäbe: „Um Theorie scherte er sich immer nur exakt so viel,
       wie es eben unbedingt notwendig war. Den ganzen Rest bestritt er mit
       Versuch und Irrtum, mit Intuition und Inbrunst, mit dem Willen, wirklich
       etwas zu bewegen.“
       
       Zum Ansatz, den Vogl entwickelt hat, gehört das „Schwarzsprechen“. Arthur
       soll Tonaufnahmen an den Therapeuten schicken, mit Erzählungen von sich, er
       soll hineinschauen in die biografische Dunkelheit. Aus Arthurs Anekdoten
       möchte Vogl, den sie liebevoll Börd nennen, eine „Optimalversion“ seines
       Schützlings entwickeln, eine „Hauptfigur“ an Arthurs Seite, die ihm in
       Krisen Orientierung bieten kann.
       
       „Sie sollen sich über diese Figur dermaßen klar werden“, sagt Börd, „dass
       Sie sie in brenzligen Situationen ‚spielen‘ können, in sie hineinschlüpfen.
       Sich über etwas hinwegretten, indem Sie so tun, als wären Sie diese Version
       von sich, die bessere, die weichgezeichnete, die klügere. Und deshalb nicht
       straffällig werden.“
       
       ## Bittere Pointen
       
       [1][Birgit Birnbachers] Roman mit dem so treffenden Titel „Ich an meiner
       Seite“ hält zahlreiche bittere Pointen bereit, etwa über die Sinnlosigkeit
       von Gefängnisstrafen und die Mühen der sogenannten Resozialisierung. Doch
       die Autorin schreibt nicht nur klug und kenntnisreich über das System der
       Bewährungshilfe, sie überführt die therapeutische Theorie auch
       beeindruckend kunstvoll in Literatur.
       
       Allein die spiegelbildliche Anlage und Entwicklung der Figuren überzeugen.
       Während sich Arthur immer mehr jener fiktiven Hauptfigur annähert, also dem
       optimalen Ich an seiner Seite, degradiert sich Dr. Vogl alias Börd zur
       Nebenfigur im eigenen Leben – als wolle er beweisen, dass seine Therapie
       auch in die umgekehrte Richtung funktioniert.
       
       Die Literatur der 1985 im österreichischen Schwarzach geborenen
       Schriftstellerin Birgit Birnbacher ist wirklichkeitsgesättigt, ohne sich
       einem einfachen Realismus zu verschreiben. Selten verlaufen die Lebensläufe
       ihrer Figuren geradlinig; simple Schuldzuschreibungen finden sich in dieser
       gut durchgearbeiteten Prosa nie. Vielmehr geht es darum, soziale,
       politische und emotionale Widersprüche offenzulegen.
       
       In diesem Fall lohnt durchaus ein Blick in die Vita der Schriftstellerin:
       Birnbacher brach ihre Schulausbildung ab, machte eine Lehre und arbeitete
       im Rahmen der Entwicklungshilfe in Äthiopien und Indien. Später holte sie
       ihr Abitur nach und studierte Soziologie. Von der Theorie ging es wieder in
       die Praxis der Sozialarbeit, und tatsächlich prägen diese beruflichen
       Erfahrungen auch ihre literarischen Texte. Birnbacher erzählt in ihrer
       vielfach ausgezeichneten Prosa von jenen Menschen, die „ganz unten“ sind
       oder zu sein scheinen.
       
       Im vergangenen Jahr gewann sie beim Klagenfurter Wettlesen den renommierten
       [2][Bachmannpreis] mit einer Geschichte über prekäre Wohnverhältnisse. Ihr
       neuer Roman „Ich an meiner Seite“ ist keineswegs die lange Version dieser
       preisgekrönten Erzählung, sondern ein eigenständiges Werk, in dem die
       Autorin ihren nahezu soziologischen Stil weiterentwickelt, der immer auch
       eine existenzphilosophische Dimension aufzeigt.
       
       ## Identität ist die Summe deiner Entscheidungen
       
       Arthur nämlich ist ein in die Welt Geworfener, einer, der frei nach Sartre
       erst begreifen muss, dass seine Identität auch die Summe seiner
       Entscheidungen ist, so unmenschlich die Umwelt sich ihm gegenüber verhält.
       Arthur wird als defensiver Charakter beschrieben, der erst aktiv wird, wenn
       es gar nicht mehr anders geht. Mit dieser Haltung wird er auch in die
       „Hauptfigurentherapie“ einsteigen. Er hat schlichtweg keine andere Wahl,
       wenn er eine zweite Chance haben will.
       
       Also beginnt er mit den autobiografischen Aufzeichnungen, die für den Roman
       eine wichtige Erzählebene, quasi eine authentische Audioquelle darstellen:
       „Eins, zwei, check. Funktioniert das überhaupt? Arthur Galleij für Doktor
       Vogl, Aufnahme eins oder so, check. (…) Das Aufwachsen also, haben Sie
       gesagt. Darüber soll ich sprechen. Dann sagen wir 1988. (…) Viel weiß ich
       eigentlich nicht aus dieser Zeit. So einzelne Geschichten, mit denen man
       später seine Herkunft erzählt.“
       
       Birnbacher kontrastiert die Aufnahmen mit Passagen einer allwissenden
       Erzählerin, die ihre Figuren behutsam, aber immer auch mit gewisser
       Radikalität führt. Arthur, so erfahren wir aus den sich ergänzenden
       Perspektiven, wächst ohne leiblichen Vater auf, und Georg, der neue Freund
       von Mutter Marianne, spricht im Grunde nie mit Arthur und seinem Bruder
       Klaus, sondern immer nur über sie, man könnte auch sagen: an ihnen vorbei.
       
       Kleine und große Verluste prägen Kindheit und Jugend der Protagonisten.
       Georg und Marianne beschließen, nach Spanien auszuwandern und ein Hospiz zu
       gründen. Das Geschäft mit den Sterbenskranken bedeutet wirtschaftliche
       Sicherheit für die beiden, für Arthur ist der Wegzug von Freunden vor allem
       mit einem Gefühl der Fremdheit verbunden.
       
       ## Kuriose Dreiecksbeziehung
       
       Bruder Klaus fremdelt noch viel deutlicher, schließt sich im Zimmer ein,
       verweigert die Kommunikation und verlässt schließlich die Familie. Bald
       versucht auch Arthur, eigene Wege zu gehen, lässt sich auf eine kuriose
       Dreiecksbeziehung ein, die durch einen tödlichen Unfall aufgelöst wird.
       
       Weil die Mutter sich nicht um den Sohn kümmert, muss Arthur seine
       fundamentale [3][Lebenskrise] allein bewältigen. Er flieht vor den
       traumatischen Erlebnissen, kehrt zurück nach Österreich und landet in Wien,
       allerdings ohne einen Plan, das Leben in der Großstadt zu finanzieren. Erst
       spät im Roman erfahren wir, welche Straftaten Arthur begeht, und daher
       sollen diese tatsächlich interessanten Details nicht verraten werden –
       zumal der Text von einer geschickten Spannungsdramaturgie lebt.
       
       Gerade haben wir noch übers Arthurs Therapiegespräch geschmunzelt, lesen
       wir auch schon eine drastische Gefängnisszene. Die Gewalt im Gefängnis wird
       Arthur noch verfolgen, als er längst nicht mehr eingesperrt ist.
       Schweißausbrüche und Selbstzweifel sind die Folge. Arthurs einziges Glück
       ist eine todkranke Frau namens Grazetta, die Arthur noch im elterlichen
       Hospiz in Spanien kennengelernt hat. Sie ist nach Wien gezogen, um die
       letzten Lebenstage im eleganten Hotel Bristol zu verbringen.
       
       ## Finstere Bühne des Lebens
       
       Grazetta kennt sich mit Hauptrollen bestens aus, da sie mal erfolgreiche
       Schauspielerin war. Diese Lichtgestalt auf der finsteren Bühne des Lebens
       wird Arthur nicht nur ein wertvolles Kuvert hinterlassen, sondern ihm auch
       das Gefühl geben, dass nach einer missglückten Vorstellung durchaus eine
       bessere folgen kann, dass Auftritt und Abgang mit Würde zu gestalten sind
       und manchmal auch das Theaterstück umgeschrieben werden muss.
       
       Mit dieser starken Botschaft könnte der Roman enden, aber Birgit Birnbacher
       ist eine Künstlerin der literarischen Volte, und so überrascht sie bis zur
       letzten Seite, indem sie kurz vor Schluss alle Muster im Textgewebe noch
       einmal durcheinanderbringt. Es bleibt vieles offen, nicht nur für Arthur,
       sondern auch für die Interpretation seiner Geschichte.
       
       Gesellschaftliche Verhältnisse aber, in denen ein Absturz wie der von
       Arthur möglich ist, sind weder human noch frei zu nennen. So entwickelt
       sich aus dem soziologisch-literarischen Blick der Autorin eine überzeugende
       Anklage gegen eine Gesellschaft, die aus Menschen vor allem funktionierende
       Wirtschaftssubjekte machen will.
       
       21 Apr 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Carsten Otte
       
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