URI: 
       # taz.de -- Wie Corona Essgewohnheiten verändert: Aus #foodporn wird #soulfood
       
       > In der Isolation verliert Essen seinen Distinktionscharakter. Fotogene
       > Burger und Bowls weichen Speck, Linsenbrei und Schokoküssen. Schlimm?
       > Nein.
       
   IMG Bild: Und dazu ein schönes Glas Burgunder!
       
       Noch bevor wir angefangen haben, Masken zu tragen, konnten wir beobachten,
       wie Masken fallen. Selbst Ministerpräsidenten geraten die Frisuren aus der
       Fasson, TV-KorrespondentInnen schminken sich lieber gar nicht als falsch,
       der schöne Schein weicht dem menschlichen, allzu menschlichen Antlitz. Der
       Grunge-Look erfährt in Corona-Zeiten ein unerwartetes Comeback, und das
       lässt sich auch auf den Food-Fotos in den sozialen Medien ablesen. All die
       Postings, für die sich der Hashtag [1][#foodporn] eingebürgert hat, die
       Menschen können davon auch am heimischen Küchentisch nicht lassen, obwohl
       da noch mehr aus der Fasson gerät.
       
       Das Handy ist in den letzten Jahren zu einem eigenen Besteckteil neben
       Messer und Gabel geworden, und damit ist die Visualität dessen, was auf dem
       Teller liegt, für den allgemeinen Appetit mindestens so wichtig geworden
       wie der Geschmack. Teller lassen sich umso besser ablichten, desto
       kontrastreicher das Gericht darauf ist, je mehr Farben, und Formen es
       beinhaltet, auch Dreidimensionalität spielt eine Rolle. Es ist eine
       Erklärung, warum Burger, Bowls und Cupcakes zum It-Food der vergangenen
       Jahre geworden sind – zwischen Brotscheiben kann gestapelt werden,
       Schüsseln sehen aus wie wuchernde Blumenbeete, und mit Crèmes, Schokoherzen
       und Zuckerperlen lassen sich die waghalsigsten Kronen auch auf kleine
       Kuchen zaubern.
       
       Obwohl Essen und Ernährung dabei in den vergangenen Jahren stetig an
       Bedeutung zugenommen haben, ergaben Umfragen immer wieder, dass die Zeit
       für die Zubereitung auf ein Minimalmaß geschrumpft ist. Nach [2][dem
       aktuellen Ernährungsreport] kochten vor der Coronakrise nur 40 Prozent der
       Menschen in Deutschland täglich. Das dürfte sich massiv verändert haben.
       Corona [3][stellt die modernen Ess- und Trinkgewohnheiten auf den Kopf].
       
       Lange galt der Satz „Du bist, was du isst“. In den Nuller- und Zehnerjahren
       änderte er sich, angetrieben von den sozialen Medien, in das Motto „Du
       isst, was du sein willst.“ Je mehr Nahrung Ort der Identitätssuche wurde,
       umso schneller wechselten die Trends und [4][poppten neue Superfoods auf].
       Wie die Gesetze der Mode um sich gegriffen hatten, merkt man erst jetzt so
       richtig, da die Pandemie alles auf null gefahren hat.
       
       ## Ein braun-gelbes Mischmasch
       
       Aufläufe, Eintöpfe, Schmorgerichte, viel Frittiertes – das wird jetzt
       gepostet und auch geliked, oft mit dem Hashtag #soulfood versehen. Sieht
       nicht gut aus, aber schmeckt [5][und wärmt die Seele]. In der zweiten
       Aprilwoche waren in US-Supermärkten nicht die Klopapierregale leer, dafür
       stapelten sich in den Einkaufswagen Hülsenfrüchte und Daal wurde zum sich
       weltweit verbreitenden Meme: ein zwar wirklich schmackhaftes Linsencurry,
       aber irgendwie auch nur ein braun-gelbes Mischmasch – in
       #foodporn-Kategorien ein Fail ersten Ranges.
       
       Die Pandemie hat etwas Paradoxes. Die Menschen erwarten einen fühlbaren
       Notstand, für den sie sich eindecken oder irgendwie vorbereiten können. Als
       ob die mangelnde soziale Nähe nicht Krise genug wäre, stiehlt sich das
       Preppertum ins Alltagsverhalten. Weil Supermärkte allein ob ihrer auf
       möglichst hohen Warendurchfluss optimierten Klaustrophobie-Innenarchitektur
       zu den Orten gehören, wo wir dieser Tage am wenigsten Abstand halten
       könnten, kauft man gerade lieber für die ganze Woche ein als für die
       nächsten Tage.
       
       Beim Horten scheint die Politik der meisten zu sein, das zu kaufen, was
       erfahrungsgemäß gerne fehlt, wenn man spontan Laune bekommt, sich an den
       Ofen zu stellen. [6][So wurden Hefe und Mehl] hierzulande mit zu
       Coronabestsellern. Wenn auf Vorrat gehandelt wird, wird anders in wichtig
       und unwichtig entschieden. Der eigene, sich abgrenzende Geschmack ist dann
       auf einmal nicht mehr so bedeutend. Distinktion? Wen interessiert das
       schon, wenn das Publikum fehlt.
       
       Das spiegelt sich auch in der Esskultur wider. Gerichte sind gut, die
       vorhalten, die aufladen, die wohltun. Die Ampel steht auf einem dicken
       einfachen Plus. Das Minus löst bei niemandem mehr Appetit aus, all jene
       Konzepte also, die sich mit Detox umschreiben lassen. Sogar Gwyneth
       Paltrow, seit Jahren prominenteste Influencerin in diesem Bereich, häuft
       auf ihre Gemüseteller gerade gebratenen Speck, Huhn und Eier. Gut möglich,
       dass auch [7][die vegane Bewegung] durch Corona eine ausgewachsene
       Konjunkturdelle erfahren wird.
       
       ## Bockwürstchen zum Lieblingsrotwein
       
       Auf einmal ist Essen von seinem großen sozialen Kontext entkleidet. Die Dos
       and Don’ts, die vor Wochen noch wichtig waren, sind auf einmal relativ. Wer
       guckt schon, wenn man die letzte Flasche des schweren Lieblingsrotweins
       gemeinsam mit einem Glas Bockwürstchen öffnet oder sich statt zuckerfreien
       Mandelmuses nach Jahren mal wieder Schokoküsse zwischen die Toasthälften
       drückt. Alles so leicht verrückt wie die ganze Situation.
       
       Aber das ist ja auch das Schöne: Ein bisschen was Anarchisches, die
       Freiheit, die man vermisst – auf dem Teller kann man das jetzt
       verwirklichen. Und sich über den eigenen Geschmack klar werden.
       
       Das Rezept verlangt Kapern, aber dafür müsste man noch einmal um die Ecke
       ins Hochrisikogebiet Supermarkt gehen. Dann muss das Gericht eben ohne
       Kapern auskommen. Geht! Irgendwie! Selbstbewusst mit Leerstellen umgehen,
       so beginnt das eigentliche Kochen: wenn man Rezepten nicht streng folgt,
       wenn man ihnen den eigenen Touch gibt. Und was ist eigener als eben genau
       das, was man in der Küche hat – und was nicht. Vielleicht stattdessen klein
       gewürfelte Gewürzgurken? Warum nicht. Es ist ein Schritt zurück zum „Du
       bist, was du isst“.
       
       4 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.instagram.com/explore/tags/foodporn/
   DIR [2] https://www.bmel.de/DE/Ernaehrung/_Texte/Ernaehrungsreport2019.html
   DIR [3] /Essen-in-der-Selbstisolation/!5675274
   DIR [4] /Clean-Eating-als-Trend/!5401503
   DIR [5] /Fuenf-Liebeserklaerungen-an-Soulfood/!5387209
   DIR [6] /Backlust-in-der-Heimisolation/!5669248
   DIR [7] /!t5312193/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörn Kabisch
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Instagram
   DIR Ernährung
   DIR Kochen
   DIR Essen
   DIR TV-Serien
   DIR Kochen
   DIR Lebensreform
   DIR Kochen
   DIR Lieferdienste
   DIR Kochen
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Backen
   DIR Ernährung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Neue Serie „The Bear“ auf Disney+: Sandwich vs. Haute-Cuisine
       
       In „The Bear“ übernimmt ein Gourmetkoch das Imbissrestaurant seines Bruders
       und dessen miese Finanzen. Inclusive Fett, Schweiß und Gesundheitsamt.
       
   DIR HelloFresh-Kochboxen im Selbstversuch: Kaiserschmarrn aus der Kiste
       
       HelloFresh ist ein echter Pandemiegewinner. Auch unsere Autorin bekommt
       einmal im Monat mehrere Gerichte nach Hause geliefert – grammgenau.
       
   DIR Hygienemuseum in Dresden: Essen gehört ins Museum
       
       Die Ausstellung „Future Food. Essen für die Welt von morgen“ widmet sich
       unserer Ernährung. Beziehungsweise der Frage, wie sie sein sollte.
       
   DIR Gemeinsames Kochen per Videochat: Zusammen isst man weniger allein
       
       Eine in Madrid, einer in Buenos Aires, eine in Berlin: Sie verabreden sich
       zum Kochen – und entwickeln eine neue Art, sich in der Ferne zu begegnen.
       
   DIR Foodblogger über Corona-Soul-Food: „Essen, das tröstet“
       
       Mit seinen „Berlin Food Stories“ wurde er zu einem der erfolgreichsten
       Foodblogger Deutschlands. Dann kam Corona – und umso mehr wurde geschlemmt.
       
   DIR Kochende Seniorinnen auf YouTube: Oma ist auch Online die Beste
       
       Seniorinnen aus aller Welt präsentieren ihre Kochkünste in Videoclips.
       Dabei wird eine Tradition beschworen, die es so nie gegeben hat.
       
   DIR Essen in der Selbstisolation: Gut genährt durch die Krise
       
       Täglich German Abendbrot und Nudeln mit Tomatensoße sind auch keine Lösung.
       Unsere AutorInnen berichten, was so auf den Tisch kommt.
       
   DIR Backlust in der Heimisolation: Von Hamstern und Zöpfen
       
       In Zeiten von Corona sollte man backen, zum Beispiel einen tröstlichen
       Hefezopf. Doch dafür muss man erst mal Weizenmehl im Supermarkt finden.
       
   DIR Fünf Liebeserklärungen an Soulfood: Essen, das keine Fragen stellt
       
       Die Welt wird immer komplizierter, heißt es. Doch Omas Kartoffeln,
       tröstender Geflügelsalat und der Leberkäse aus der Kindheit bleiben. Sie
       sind da, wie gute Freunde.