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       # taz.de -- Literarischer Übersetzer Carl Weissner: Das Bedürfnis, oben mitzuspielen
       
       > Er war der große Übersetzer und Vermittler des US-Undergrounds: Carl
       > Weissner. Nun ist eine Sammlung journalistischer Texte von ihm
       > erschienen.
       
   IMG Bild: Carl Weissner (1940–2012) war der Künder der US-Counterculture in Deutschland
       
       Sein Initiationserlebnis hat Carl Weissner als Amerikanistik-Student in
       Heidelberg Mitte der 60er Jahre. Times Literary Supplement präsentiert zwei
       Nummern lang die aktuelle internationale Avantgardeliteratur, „The
       Changing Guard“, um die man hierzulande immer noch einen großen Bogen
       macht.
       
       Er ist angefixt, nicht zuletzt von William S. Burroughs, der in einem der
       Essays seine Cut-up-Methode erläutert. Weissner sucht Anschluss an die
       Szene und gibt bald darauf eine Zeitschrift heraus, Klactoveedsedsteen,
       nach dem gleichnamigen Album von Charlie Parker. Der Titel besitzt
       Symbolwert. Jazz als eine Rationalität und Kalkül mehr oder weniger außer
       Kraft setzende Improvisationskunst ist eine der ästhetischen Referenzgrößen
       der zeitgenössischen Avantgarde.
       
       ## Versammeln des literarischen Undergrounds
       
       Weissner zeigt sich schon damals als gewiefter Netzwerker. In den fünf
       Ausgaben, die bis 1967 entstehen, hat er den literarischen Underground
       jener Jahre versammelt: Charles Bukowski, von dem er dann nie wieder
       loskommt, Harold Norse, Jeff Nuttall, Claude Pélieu, Allen Ginsberg etc.
       
       Und natürlich Burroughs. Der besucht ihn 1966 sogar in Heidelberg, so
       übersichtlich ist die Szene damals. Sie experimentieren mit diversen
       Kassettenrekordern, basteln an akustischen Cut-up-Kollaborationen.
       
       Ein Fulbright-Stipendium führt ihn dann für anderthalb Jahre nach New York
       und San Francisco. Ausgerechnet in den Jahren 67/68. Er fühlt den Puls der
       Zeit, taucht tief ein in die lokale Underground-Szene, trifft den komischen
       Heiligen Allen Ginsberg, Roy Lichtenstein, Ed Sanders und die Fugs, die
       Superstars von Andy Warhols Factory, sieht Velvet Underground, Jimi Hendrix
       und Thelonious Monk live, nimmt teil an der Gründungssitzung der Youth
       International Party von Jerry Rubin, Abbie Hoffman et alii, wirft
       psychedelische Drogen ein und kämpft mit seinem ersten Buch „The Braille
       Film“.
       
       ## Der epische Flow
       
       Weissner setzt zunächst alles daran, sich als amerikanischer Autor zu
       etablieren. Zugleich wächst er langsam hinein in die Rolle des Übersetzers
       und Vermittlers des US-Undergrounds in Deutschland. Und obwohl er zu Hause
       noch eine Weile weiter schreibt, weitere Cut-up-Stücke in diversen
       Gegenkultur-Magazinen veröffentlicht, lässt er sich nolens volens immer
       mehr vereinnahmen von der Übersetzerei.
       
       Das hat neben den üblichen biografischen Zufällen vor allem wohl mit
       eigenen Prätentionen und den damit verbundenen Schreibhemmungen zu tun. Er
       kommt einfach nicht zu Rande mit längeren Texten. Der epische Flow stellt
       sich nicht ein. Seine literarischen Arbeiten sind oft Collagen aus
       Momentaufnahmen, Filmstills, die nicht so richtig in Bewegung kommen.
       
       Der literarische Journalismus hätte womöglich ein Ausweg sein können, das
       beweist die von Matthias Penzel herausgegebene Sammlung von Essays,
       Kritiken, Notizen und Reportagen – „Aufzeichnungen über Außenseiter“.
       
       Bukowski taucht gleich mehrfach auf. Immerhin ist er sein bestes Pferd im
       Stall. Dennoch gehen die einschlägigen Texte über das übliche
       Betriebsklappern weit hinaus. Schon seine erste werbende Vorstellung des
       Dirty Old Man von 1969, „Buk Sings His Ass Off“, verbiegt die Realität so
       weit, bis sie endlich mit der Wahrheit identisch ist.
       
       Er beschreibt darin einen Bukowski, „den ich in der Nacht zum 8. August
       1968 auf einer Party im Haus des Henry Miller (auch er Sohn einer deutschen
       Mutter) erlebt habe, wie er in volltrunkenem Zustand dem Gastgeber auf die
       Schulter schlug und ausrief: ‚Henry, wir Deutschen sind doch weiß Gott die
       größten Arschlöcher auf der Welt!‘, worauf sich ein Wortgefecht
       entwickelte, das zum wesentlichen Teil mit deutschen Kraftausdrücken
       geführt wurde und darin endete, dass Miller sich an seinen zerschrammten
       Yamaha-Flügel hockte und die Marseillaise hämmerte, während Bukowski die
       polnische Nationalhymne grölte.“ Alles erlogen und trotzdem ganz wahr.
       
       Weissners Geschichte „Der große Graue mit den gelben Zähnen“ über Bukowskis
       zweiwöchigen Deutschlandtrip 1978 ist näher dran an der Realität. Er gehört
       zum Gehaltvollsten und Komischsten, was man hierzulande über den Alten
       lesen kann. Weissner skizziert ihn als eine Art heiligen Narren, der an
       seiner Berühmtheit schwer laboriert [1][und sich aus Angst vor der
       ausverkauften Markthallen-Lesung fast um den Verstand trinkt].
       
       „Eines Nachts schrillt bei mir das Telefon. Linda. ‚Er versucht, draußen
       über den Balkon zu klettern. Das eine Bein hat er schon drüber.‘ Das um 3
       Uhr morgens. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Ich erinnere mich, dass
       ich den Balkon nach einer kurzen Begehung für off limits erklärt habe. ‚Sag
       ihm, ich muss ihn dringend sprechen.‘ Nach einigen bangen Sekunden ist er
       am Apparat. ‚Hank‘, sage ich, ‚ich hab einen unheimlichen Durst und kenne
       eine erstklassige Bar, in der...‘ ‚Nicht nötig‘, unterbricht er mich. ‚Ich
       hab mir nur ein bisschen die Beine vertreten. Don’t worry. I’m okay.‘ Er
       legt auf.
       
       Parkhotel, Zimmer 218. Linda entfernt einen Bettbezug, der Blutflecken
       aufweist. Hank ist grade mit einem Blumenstrauß unterwegs zu dem
       griechischen Zimmermädchen, das ihm nach einem nächtlichen Unfall in der
       Hotelküche eine Glasscherbe aus dem Arm operiert hat. ‚Wenn er nicht bald
       was isst‘, sage ich, ‚schafft er’s nie bis Hamburg.‘“
       
       Aber es klappt dann doch und man empfängt ihn wie einen Rockstar und ein
       bisschen auch wie einen verlorenen Sohn.
       
       ## Bukowski kam dazwischen
       
       Wenn man nicht längst ahnt, auf wen sich Weissner als Reporter beruft,
       spätestens nach Lektüre seiner glühenden Liebeserklärung an den
       heißlaufenden, über die Stränge schlagenden Journalismus eines Hunter S.
       Thompson weiß man es. Eine alternative Karriere als Gonzo-Schreiber wäre
       für ihn wohl auch denkbar gewesen. Bukowskis Bestsellererfolg kam
       dazwischen. Angesichts der hier versammelten Stücke kann man das ruhig mal
       bedauern.
       
       Aber auch als Kritiker hat Weissner Stil. So taxiert er schon früh und
       ziemlich gerecht die Qualitäten des Lyrikers Wolf Wondratschek, zeigt den
       deutschen Lesern erstmals einen Weg durch die labyrinthische Prosa von
       Williams S. Burroughs und lästert über die Heiligsprechung Bob Dylans vor
       allem von der professionellen Kritik, die eine vernünftige Beschäftigung
       mit dem Künstler unmöglich mache.
       
       Einer der schönsten Texte ist sein großer Essay über den Freund und
       Mitstreiter Jörg Fauser. Er bringt einem hier nicht nur das Werk und den
       Menschen näher, wie die besten Literatenporträts von Fauser ist er selber
       ein Stück Literatur.
       
       Fauser und Weissner sind sich einig in ihrem Kampf „gegen die
       Kulturverweser und Schleimer und Verhunzer auf beiden Seiten des Atlantik“.
       Ein Beißreflex. Auch Weissner kompensiert die eigene Randständigkeit im
       Kulturbetrieb mit einer forcierten Überlegenheitsgeste, die sich allzu oft
       in großmäuligem Geschimpfe Luft macht. Das liest man ganz gern, aber in der
       Massierung zeigt sich eben auch das Zwanghafte, Unsouveräne. Es gab da eben
       doch diesen Komplex, dieses tiefsitzende Bedürfnis, oben mitspielen zu
       wollen. Diese Texte zeigen, dass er es gekonnt hätte.
       
       3 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neues-Charles-Bukowski-Buch/!5647976
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frank Schäfer
       
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