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       # taz.de -- Rechtsextreme Terrorbriefe: Der Radikalisierte
       
       > Seit Monaten erhalten Politiker und Engagierte anonyme rechtsextreme
       > Drohschreiben. Am Dienstag vor Gericht in Berlin bekam der Hass ein
       > Gesicht.
       
   IMG Bild: Auf der Anklagebank in Berlin Moabit: der 32-Jährige verdeckt sein Gesicht
       
       Berlin taz | Die [1][rechtsextremen Drohschreiben gingen an] Linken- und
       GrünenpolitikerInnen, an die Bundesjustizministerin, an JournalistInnen
       oder die Sängerin Helene Fischer. Und sie waren voller wüstem Hass. Man
       kämpfe gegen die Verunreinigung des „deutschen Volkstums“, werde „Menschen
       auf offener Straße exekutieren“ oder Kinder töten, hieß es dort.
       Unterzeichnet wurde mit: „Nationalsozialistische Offensive“.
       
       Es sind Drohungen, die so oder ähnlich seit Monaten Menschen in diesem Land
       erreichen – zumeist von anonymen Absendern. Diesmal aber ist es anders.
       Denn im Fall der „Nationalsozialistischen Offensive“ bekommt der Hass am
       Dienstag ein Gesicht. Es gehört André M., einem 32-Jährigen aus Halstenbek
       bei Hamburg.
       
       Die Polizei hatte den Arbeitslosen Anfang April 2019 verhaftet. Es war eine
       der ganz wenigen Festnahmen nach solchen Drohschreiben. Nun sitzt André M.
       im Landgericht Berlin, Saal 700. Er soll es sein, der hinter der
       „Nationalsozialistischen Offensive“ (NSO) steckt.
       
       Blass und schmächtig, mit blonder Zopffrisur, sitzt André M. dort hinter
       dem Sicherheitsglas, aufmerksam schaut er in den Saal. Als der Richter nach
       seinen Personalien fragt, antwortet André M. nur knapp. Schon zu seinem
       Beruf will er nichts mehr sagen. Auch zu den Vorwürfen schweigt er.
       
       Dann aber wird die Verhandlung sowieso unterbrochen. Ein Fax hatte das
       Gericht erreicht, kurz vor Prozessbeginn, mit einer Bombendrohung,
       ausgerechnet. Nun wird das Schreiben dem Richter gereicht, der den Saal
       räumen lässt und den Prozess für eine Stunde unterbricht. André M. verfolgt
       das Ganze interessiert, aber ohne weitere Regung.
       
       ## „Im eigenen Blut ersaufen“
       
       In dem Schreiben ist von mehreren deponierten Sprengsätzen im Gericht die
       Rede. Die anwesende „Lügenpresse“ werde „im eigenen Blut vor dem Saal
       ersaufen“, auch der Richter wird namentlich genannt. Unterschrieben wird
       mit: „NSU 2.0“. Die Polizei gibt eine Stunde später Entwarnung: Es kann
       weiterverhandelt werden.
       
       Die Staatsanwältin verliest daraufhin die Anklage – die André M. ebenso
       regungslos verfolgt. 103 Drohschreiben habe André M. in nur gut drei
       Monaten verschickt, seit Ende Dezember 2018, von anonymisierten
       E-Mail-Adressen aus. Gleichzeitig habe er auch im Darknet Gewaltaufrufe
       veröffentlicht. Die meisten Schreiben waren Bombendrohungen – an Gerichte,
       Rathäuser, Behörden, Bahnhöfe oder auch die Rote Flora in Hamburg.
       Fabuliert wurde über versteckten Sprengstoff, über Fernzündungen via Handy,
       ergänzt immer wieder mit expliziten Ausschmückungen, wie es zu Toten kommen
       werde. „Ihr werdet in Fetzen da liegen“, hieß es zum Beispiel. Die Gebäude
       mussten teils geräumt werden – Sprengsätze wurden nie gefunden.
       
       Dazwischen folgten Drohschreiben an Bundestagsabgeordnete, an Medienhäuser,
       auch die taz, oder immer wieder obsessionshaft an Helene Fischer, die als
       „slawisch“ abgelehnt wurde. Auch hier versehen mit brachialen
       Gewaltandrohungen, teils auch Geldforderungen via Bitcoin oder Monero in
       absurden Höhen. Einige Schreiben waren mit einem Link zu einem Video
       versehen, in dem Kinder missbraucht und gefoltert werden.
       
       Es sei André M. um das „Ausleben seines Menschenhasses“ gegangen, einem
       Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, sagt die Staatsanwältin. Und um Fantasien
       einer „nationalen sozialistischen Ordnung“.
       
       Es war André M. selbst, der die Ermittler auf seine Spur brachte. Denn über
       die Monate wurde er immer unvorsichtiger. Am Ende bedrohte er auch eine
       Bekannte aus Sachsen-Anhalt – und griff dies später in einem Schreiben an
       eine Politikerin auf. Über diese Bekannte konnte die Polizei André M.
       identifizieren. Er hatte sich selbst verraten.
       
       ## Fünf Jahre Psychiatrie
       
       Und die Ermittler trafen auf einen einschlägig Bekannten. Schon seit seiner
       Kindheit fiel André M. nach taz-Informationen mit Gewalttaten auf. Die
       Schule verließ er als 15-Jähriger mit einem Fünfte-Klasse-Abschluss. Schon
       ab dieser Zeit zerstach er Autoreifen, legte Brände, experimentierte mit
       Sprengstoff oder attackierte einen Nachbarn mit einem Messer, gleichzeitig
       plagten ihn Angstzustände. Schließlich sinnierte er mit einem Bekannten
       über einen Bombenanschlag auf ein Apfelfest in einer Nachbarstadt. Von dem
       Vorwurf wurde er freigesprochen, wegen anderer Delikte aber landete er für
       fünf Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus.
       
       Auch danach folgten weitere Straftaten und Inhaftierungen. Eine Ausbildung
       trat André M. nie an, Freunde hatte er keine mehr. Zuletzt wurde er im
       Oktober 2018 aus der Haft entlassen. Er zog wieder zurück zu seinen Eltern,
       wo er sich sein Zimmer mit Hakenkreuzfahnen ausstaffiert haben soll. Schon
       kurz darauf meldete er sich nach taz-Informationen wieder im Darknetforum
       „Deutschland im DeepWeb“ an, in dem er schon 2017 unter dem Alias
       „Sturmsoldat“ aktiv gewesen sein soll. Nun firmierte er dort als
       „Sturmwehr“. Die später verbotene Plattform war ein riesiges Chatforum,
       aber auch ein Kriminalitätsumschlagplatz. So bezog etwa der Attentäter des
       Anschlags auf das [2][Münchner Olympia-Einkaufszentrum 2016] von dieser
       Plattform seine Tatwaffe.
       
       André M. widmete offenbar seine ganze Zeit dem Darknet, und das
       einschlägig. In Chats soll er wiederholt zu Terror gegen PolizistInnen,
       RichterInnen und PolitikerInnen aufgerufen haben. Dann habe André M. seine
       Drohschreibenserie als „Nationalsozialistische Offensive“ gestartet. Die
       Ermittler fürchteten, dass es nicht dabei bleiben sollte: Denn der
       32-Jährige lud auch Anleitungen zum Bomben- und Schusswaffenbau aus dem
       Internet herunter, posierte auf Fotos mit Sturmgewehren und beschäftigte
       sich mit dem [3][Christchurch-Anschlag] auf zwei neuseeländische Moscheen
       mit 51 Toten.
       
       Die Ermittlungen machten aber auch klar, dass André M. nicht alleine
       handelte. Denn ausgehend von der Darknetplattform verschickt auch eine
       zweite Person bis heute ganz ähnliche, ebenso brutale Schreiben, mal unter
       dem Alias „Wehrmacht“, mal als [4][„Staatsstreichorchester“]. Und diese
       Person stand nach taz-Informationen ab Mitte Januar 2019 in engem Austausch
       mit André M. Beide diskutierten demnach über Adressaten für ihre Drohungen,
       in den verschickten Schreiben wurde sich aufeinander bezogen.
       
       Als André M. im April 2019 schließlich verhaftet wurde, verschickte
       „Staatsstreichorchester“ eine E-Mail an Politiker und Journalisten, in
       welcher er „Immunität“ für den „Mitarbeiter“ forderte. André M., der mit
       vollem Nachnamen genannt wird, habe „nicht die nötigen
       Sicherheitsvorkehrungen getroffen“. Man sei dennoch „in keiner Weise
       beeindruckt“. Gedroht wurde mit neuem rechtem Terror. Und die Schreiben
       setzten sich fort.
       
       ## Schuldfähigkeit muss geklärt werden
       
       Bis heute konnten die Ermittler nicht herausfinden, wer hinter diesem
       zweiten Alias steckt. Und auch André M. schweigt dazu. Der Prozess gegen
       ihn muss nun auch klären, wie schuldfähig M. überhaupt ist. Er selbst soll
       wiederholt Suizid- und Amokgedanken geäußert und Medikamente missbraucht
       haben. Sachverständige attestierten ihm in der Vergangenheit eine
       Persönlichkeitsstörung.
       
       Im Gericht sitzt am Dienstag auch die Bundestagsabgeordnete der Linken,
       Martina Renner. Auch sie erhielt Drohschreiben der „Nationalsozialistischen
       Offensive“, nun ist sie Nebenklägerin im Prozess. Es sei eigenartig, André
       M. ins Gesicht zu schauen, sagt Renner. Für sie ist er kein Verrückter,
       sondern ein klarer Rechtsextremist. „Die Auswahl der Menschen, die er
       bedrohte und sein Vokabular sind da eindeutig.“
       
       Renner will in dem Prozess auch die „offenkundigen, bisher unbehelligten
       Mittäter“ thematisieren. Hier seien „entschiedene Ermittlungen“ nötig, um
       auch diese zu stellen. Und sie verweist auf die Waffenaffinität von André
       M.: „Es geht hier nicht nur um Dahingeschriebenes. Der Schritt zu realer
       Gewalt und Terror ist ganz klein.“
       
       Das zeigt sich auch an anderer Stelle. So erhielt zuletzt auch der
       SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby aus Halle zahlreiche Drohschreiben,
       darunter auch vom „Staatsstreichorchester“. Später wurden in seinem
       Bürgerbüro Einschusslöcher entdeckt. Und auch der des Mords an dem Kasseler
       Regierungspräsidenten Walter Lübcke Tatverdächtige soll zuvor im Internet
       mit Gewalt gedroht haben. Inzwischen zogen sich bundesweit einzelne
       BürgermeisterInnen wegen solcher Bedrohungen zurück. BKA-Chef Holger Münch
       spricht von einer „demokratiegefährdenden“ Entwicklung.
       
       ## Heilpraktikerin festgenommen
       
       Der Polizei glückte zuletzt immerhin eine zweite Festnahme. Ende März
       fasste sie in Bayern eine 54-jährige Heilpraktikerin. Die Frau soll
       Kommunalpolitikern und an eine Moschee Drohbriefe geschickt haben, teils
       mit einer scharfen Patrone. Ermittelt wurde sie, weil zurückverfolgt werden
       konnte, wo sie die versandten Karten gekauft hatte. Laut Polizei besitzt
       die Frau seit Langem eine „rechtsgerichtete Gesinnung“.
       
       Die rechtsextremen Drohschreiben aber gehen weiter. So verschickten
       Unbekannte zuletzt unter dem Alias „Wolfszeit 2.0“ E-Mails an
       PolitikerInnen der Linken und Grünen und drohten, man werde sie
       „abschlachten“, weil sie sich „für dreckige Asylanten“ einsetzten.
       Ungeklärt ist auch, wer als „NSU 2.0“ Drohfaxe an die NSU-Opferanwältin
       Seda Basay-Yildiz aus Frankfurt am Main verschickte. André M. und sein
       Mitstreiter sollen in ihren Schreiben auch einen „NSU 2.0“ als Teil ihres
       Netzwerks benannt haben. Die Ermittler glauben jedoch an andere Verfasser.
       Unklar ist auch, ob es hier einen Zusammenhang zu dem Drohfax an das
       Berliner Landgericht vom Dienstag gibt.
       
       Und auch Martina Renner hat bis heute keine Ruhe. Erst Montag erhielt sie,
       ebenso wie andere, erneut ein Drohschreiben – wieder mal vom
       „Staatsstreichorchester“. Gefordert wird darin ein „einwandfreier
       Freispruch“ für André M. Andernfalls werde „die Bevölkerung die
       Konsequenzen zu spüren bekommen“. Diesem dürfte aber eine längere
       Freiheitsstrafe bevorstehen, wenn die Richter seine Schuld als erwiesen
       ansehen.
       
       21 Apr 2020
       
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