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       # taz.de -- Wildtiere und der Corona-Lockdown: Von Kojoten und Chaoten
       
       > Angeblich sind wegen des Corona-Lockdowns mehr Wildtiere in Städten
       > unterwegs. Expert:innen sind skeptisch und verweisen auf Fake News.
       
   IMG Bild: Keine Fake News: Zwei Gänse spazieren am 3. Mai über den menschenleeren Jungfernstieg in Hamburg
       
       Berlin taz | Glaubt man diversen Meldungen und Aufnahmen im Internet,
       erobert die Natur während der Corona-Ruhe weltweit die Städte zurück:
       [1][Pumas in Santiago de Chile], [2][Leoparden in Mumbai], [3][Wildschweine
       im Zentrum von Barcelona]. Und immer wieder [4][Delfine – zum Beispiel in
       Istanbul]. Manche Posts gehen ähnlich viral wie SARS-CoV-2 selbst und
       verbreiten ein schaurig-schönes Narrativ über die ökologischen Folgen der
       globalen Krise. Stadttiere müssten demnach den Hungertod fürchten – leere
       Straßen, leere Mülleimer. Wie die Deutsche Presseagentur (dpa) berichtete,
       soll eine ältere Frau mit Einkaufs-Rolli in Spanien sogar von einem
       [5][Schwarm weißer Tauben „attackiert“] worden sein. Werden die aus der
       Quarantäne kriechenden Menschen einer neuen Wildnis begegnen? Oder steigen
       ihnen düstere Hitchcock-Fantasien zu Kopfe?
       
       „Tauben sind Körnerfresser, keine Menschenfresser“, sagt Derk Ehlert,
       Wildtierexperte des Berliner Senats. [6][Anders als manche
       Tierschützer:innen] macht er sich kaum Sorgen: „Wir haben sogar den
       Eindruck, dass derzeit mehr als sonst gefüttert wird, nur eben an anderen
       Stellen – und sei es am Fenster.“ Auch für andere Kulturfolger gelte:
       Selbst wenn einzelne Tiere jetzt längere Zeit litten, sei nicht gleich die
       ganze Population in Gefahr.
       
       Insgesamt gibt es durch Corona weniger Veränderungen in der Natur als beim
       Menschen selbst, glaubt Derk Ehlert. Unsere Wahrnehmung sei momentan eine
       andere, viele Beobachtungen stark subjektiv gefärbt. Vielleicht erklärt
       das, wie die wilden Berichte über Tiere in Innenstädten zustande kommen.
       Ein Video mit Delfinen in Venedigs Kanälen – zugegebenermaßen eine
       romantische Vorstellung – entpuppte sich als [7][Aufnahme aus dem Hafen der
       sardinischen Stadt Cagliari]. Auch viele weitere Berichte [8][erwiesen sich
       als falsch] – zumindest aber dramatisch ausgeschmückt oder verzerrt
       dargestellt.
       
       Es stehe sicher keine böse Absicht hinter solchen [9][Fake News], sagt die
       Expertin für Stadtnatur beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
       (BUND) Afra Heil. Eher Unwissen: „Oft wird Natur nicht mit Stadt in
       Verbindung gebracht, aber für Wildtiere gibt es keine klare Grenze, die
       waren auch vorher schon da.“ Selbst Pumas, ergänzt Derk Ehlert, lebten
       schon lange in der Umgebung der chilenischen Hauptstadt und seien auch
       vorher schon in die Stadt gekommen. „Das passiert gerade öfter, weil es
       ruhiger ist und der Müll nicht abgeholt wird.“ Auch von Kojoten in New York
       oder San Francisco hätten die Medien schon berichtet, das habe man dann
       wieder vergessen. „So schnell wandern Wildtiere nicht neu in Städte ein,
       bei größeren Arten dauert das Jahrzehnte“, so Ehlert.
       
       ## Vorsichtiges Herantasten
       
       Dass bereits anwesende Tiere ihr Verhalten temporär ändern, ist hingegen
       wenig überraschend. Wie Stephanie Kramer-Schadt vom Leibniz-Institut für
       Zoo- und Wildtierforschung (IZW) erklärt, wägen Tiere stets zwischen vom
       Menschen ausgehenden Gefahren und Anreizen ab, beispielsweise Verkehr vs.
       Futter. Es könne durchaus sein, dass [10][eine laufende
       Kamerafallen-Studie] in Berlin vor allem für die Nacht veränderte
       Aktivitätsmuster zeigen werde. Von „Eroberungen“ zu sprechen, sei jedoch
       übertrieben: „Das klingt fast, als herrsche Krieg“, so Kramer-Schadt.
       Vielmehr handele es sich um ein vorsichtiges Herantasten, ob die neuen
       menschenleeren Areale als Lebensraum taugen.
       
       „Diese Effekte sind in anderen Ländern sicher stärker, wo die
       Ausgangssperren rigoroser gehandhabt werden als in Deutschland“, sagt
       Kramer-Schadt. Laut dem französischen Büro für biologische Vielfalt (OFB)
       hat das neben Vorteilen – weniger überfahrene Tiere auf den Straßen oder
       der Fortpflanzung seltener Arten förderliche Ruhe – auch seine
       Schattenseiten. So wirke sich die erzwungene Unterbrechung von Aktionen zur
       Unterstützung gefährdeter Arten oder zur Bekämpfung invasiver Arten eher
       nachteilig aus. Der britische Guardian berichtete, dass die zuletzt
       [11][auch anderswo vermehrt gesichteten Ratten] in Neuseeland zur Gefahr
       werden. Da die dortige Regierung Kammerjäger:innen nicht als systemrelevant
       einstuft, sind demnach die besonders [12][fragilen Insel-Ökosysteme] mit
       vielen nur dort vorkommenden Arten in Gefahr.
       
       ## Noch mehr Menschen in Parks
       
       Zumindest in Deutschland könnten es Wildtiere in der Stadt momentan sogar
       noch schwerer haben als ohnehin schon. Denn Parks und Wälder werden während
       der Corona-Pandemie viel intensiver genutzt. In Berlin seien mindestens
       doppelt so viele Menschen unterwegs wie sonst, weiß Senatsmitarbeiter
       Ehlert. Dadurch komme es zwangsläufig zu häufigeren Begegnungen mit Tieren,
       vor allem wenn Ausflügler:innen einsame Ecken aufsuchten und die Wege
       verließen. Das könnte auch in anderen Ländern mit zunehmenden
       Maßnahmen-Lockerungen passieren: „Es wird ein Bedürfnis nach Natur und eine
       Überfüllung geben, die für Flora und Fauna ungünstig sein kann“, warnt
       OFB-Regionaldirektor Rieffel.
       
       Andererseits, findet Derk Ehlert, sei es gut, dass die Leute mehr Zeit und
       einen wacheren Blick haben: „Selbst Allerweltsarten werden plötzlich
       wahrgenommen, von manchen zum ersten Mal“. Viele Beobachtungen würden im
       eigenen Kiez oder Garten gemacht. Selbst der kleinste Balkon oder ein Blick
       aus dem Fenster kann in diesen Wochen besondere Bedeutung bekommen. „Die
       Menschen merken, wie wertvoll Stadtnatur ist“, sagt Afra Heil vom BUND.
       Kein Wunder also, dass Wildtiermeldestellen und Naturschutzverbände mehr
       Anfragen als sonst verzeichnen. Manche Leute fragten beispielsweise, ob es
       stimmt, dass die Vögel jetzt lauter singen. „Vielleicht wirkt es so, weil
       weniger Verkehr ist?“, überlegt Heil.
       
       ## Viele Anekdoten, wenig Studien
       
       Tatsächlich wäre es logischer, wenn Vögel jetzt leiser wären. Es ist
       bekannt, dass viele Arten [13][bei Lärm] lauter singen –
       Wissenschafler:innen konnten sogar zeigen, dass sie [14][wohlhabendere und
       ruhigere Viertel bevorzugen]. [15][Gestresste Stadtvögel] singen
       normalerweise auch zu etwas anderen Tageszeiten und [16][in höherer
       Frequenz] als auf dem Land. Es kann also durchaus sein, dass ihr Gesang
       wegen der momentanen Ruhe anders erschallt als sonst.
       
       Letztlich wird das Corona-Verhalten von Wildtieren wohl Gegenstand mancher
       Spekulation bleiben – Anekdoten gibt es viele, Studien bisher keine.
       Expert:innen sind sich aber größtenteils einig, dass die meisten
       ökologischen Effekte auf lange Sicht zu vernachlässigen sind, wenn bald
       alles wie gewohnt weitergeht. Kurzfristig leere Straßen, klare Flüsse und
       saubere Luft halten Klimawandel und Artensterben nicht auf. Relevanter
       findet Afra Heil daher die Frage, was nach der Corona-Krise kommt. Man
       müsse langfristig auf eine naturverträgliche Gesellschaft hinarbeiten. Das
       könne man durchaus auch auf urbane Gegenden anwenden, so Heil.
       
       9 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/agenciaunochile/status/1242428343162675201
   DIR [2] https://www.hindustantimes.com/mumbai-news/rapid-increase-in-leopard-movement-in-aarey-colony-forest-department/story-eM2QtHjqGa23kL1zhuaZZM.html
   DIR [3] https://www.facebook.com/ajarenys/videos/282920172698479/
   DIR [4] https://twitter.com/susantananda3/status/1256771627926188032
   DIR [5] https://twitter.com/FerCanalesF/status/1241068328795471873?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1241068328795471873&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.n-tv.de%2Fpanorama%2FWildschweine-tummeln-sich-in-Barcelona-article21659822.html
   DIR [6] /Petition-der-Woche/!5675687/
   DIR [7] https://www.facebook.com/michela.meloni.90/posts/10216374929340949
   DIR [8] https://www.nationalgeographic.com/animals/2020/03/coronavirus-pandemic-fake-animal-viral-social-media-posts/
   DIR [9] https://qz.com/india/1849226/fake-news-of-wild-animals-in-cities-amid-coronavirus-is-dangerous/
   DIR [10] https://www.wildtierforscher-berlin.de/
   DIR [11] https://twitter.com/rodentologist/status/1243236800220536834
   DIR [12] https://www.theguardian.com/environment/2020/apr/18/boom-time-for-new-zealands-rats-as-lockdown-gives-them-free-rein-in-cities-aoe
   DIR [13] https://www.pnas.org/content/115/4/E648
   DIR [14] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0169204619308175#f0010
   DIR [15] https://www.pnas.org/content/115/4/E648
   DIR [16] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3574330/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrew Müller
       
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