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       # taz.de -- Gespräch über Kriegsende vor 75 Jahren: „Die erste Teilung passierte 1945“
       
       > Der 8. Mai 1945 und das Erinnern: Ein Gespräch mit der ostdeutschen
       > Historikerin Silke Satjukow und dem westdeutschen Historiker Ulrich
       > Herbert.
       
   IMG Bild: Panorama-Installation zum Anlass des 60. Jahrestags des Kriegsendes am Brandenburger Tor in Berlin
       
       taz am wochenende: Frau Satjukow, Herr Herbert, eine persönliche Frage zu
       Beginn: Wie wurde in Ihren Familien über den 8. Mai 1945 gesprochen? 
       
       Silke Satjukow: In Thüringen, wo ich groß geworden bin, marschierten die
       Amerikaner schon im April ein, im Juli folgte die Rote Armee. Wenn wir den
       8. Mai als Chiffre für die letzten Kriegstage verstehen, wurde bei uns oft
       darüber gesprochen, dass meine Tante Angela von einem Russen vergewaltigt
       wurde. Die Erzählung in meiner Familie war also nicht die von einer
       Befreiung, sondern die von einer Gewalttat.
       
       Ulrich Herbert: Bei uns war der 26. Januar das entscheidende Datum. Die
       Stadt Elbing in Ostpreußen, wo meine Großeltern und meine Mutter lebten,
       wurde an diesem Tag eingenommen. Als die Rote Armee schon in Sichtweite
       war, entschieden meine Großeltern, sich nach Westen aufzumachen. Meine
       Mutter erlebte den 8. Mai dann in Bayern. Sie erzählte mir von dem ersten
       amerikanischen Jeep, den sie sah. Der Fahrer war ein Schwarzer, der
       Offizier ein Weißer. Der hatte das Hemd offen und die Füße auf den Kühler
       gelegt. Der Kommentar meiner Mutter: „Und trotzdem gewonnen.“
       
       Das Kriegsende erleben die Menschen unterschiedlich, je nach Region. Kann
       man sagen, dass da schon die Zweiteilung Deutschlands einsetzt? 
       
       Satjukow: Die Erwartungen der Deutschen an die Alliierten waren sehr
       unterschiedlich. Die nationalsozialistische Propaganda hatte den Menschen
       eingetrichtert, vor allem die Russen seien Bestien. Und tatsächlich
       plünderte, vergewaltigte und mordete die Rote Armee in diesen letzten
       Kriegstagen. Aber auch die Franzosen hatten den Ruf, gewalttätig zu sein,
       was sich in Süddeutschland teils bestätigte. Anders sprach man dagegen über
       die Amerikaner und die Briten. Differierende Erwartungen führten dann auch
       zu unterschiedlichen Erfahrungen. Insofern kann man von einer ersten
       Teilung sprechen.
       
       Herbert: Die Russen haben nicht nur das getan, was die deutsche Propaganda
       vorhergesagt hat, sondern, was die Deutschen auch erwartet hatten, weil sie
       wussten oder zumindest ahnten, was deutsche Einheiten in Russland
       angerichtet hatten. Insofern hat die Propaganda nur eine Befürchtung
       verstärkt, die es aufgrund eigener Informationen gab.
       
       Als Tag der Befreiung haben den 8. Mai damals die wenigsten gesehen … 
       
       Satjukow: Das kommt darauf an. Für die Häftlinge in den
       Konzentrationslagern war es natürlich Befreiung, ebenso für versteckte
       Juden und andere gefährdete Personen. Aber die Mehrheit der Deutschen
       empfand den Einmarsch nicht als Befreiung.
       
       Herbert: Für die genannten Opfergruppen stimmt das, aber schon bei
       sowjetischen Zwangsarbeitern ist das nicht mehr so eindeutig. Sie hofften,
       befreit zu werden, wussten aber auch, dass bei Stalin als Kollaborateur
       galt, wer sich gefangen nehmen ließ – und das wurde hart bestraft. Die
       meisten Deutschen dachten aber nicht in den Kategorien von „befreit“ oder
       „besetzt“.
       
       Sondern? 
       
       Herbert: Für sie war entscheidend: Überlebe ich den Krieg oder nicht? Auch
       den meisten Soldaten war zum Schluss völlig egal, wie der zu Ende gehen
       würde. Die glaubten an gar nichts mehr. Insofern ist „Befreiung“ eine
       nachträgliche Kategorisierung. Damals lebten 78 Millionen Menschen auf dem
       Reichsgebiet, 40 Millionen von ihnen nicht an dem Ort, an dem sie
       eigentlich lebten – Displaced Persons, Zwangsarbeiter, Vertriebene, die
       Ausgebombten, die aufs Land geflohen waren. Chaos, Durcheinander und die
       Offenheit der Situation bestimmten das Bild.
       
       Allen Teilen Deutschlands gemeinsam ist, dass dort schnell keiner mehr Nazi
       gewesen sein will. Die Versuche der Entnazifizierung sind dann
       unterschiedlich. 
       
       Herbert: Am Anfang gar nicht so. Die amerikanischen Behörden haben zunächst
       in einem Ausmaß zugegriffen, das man heute gern unterschätzt. Da wurden
       über eine Million NS-Belasteter in den Internierungslagern inhaftiert, und
       das war kein Spaß. Und die Aussortierung der Nazis aus den Verwaltungen war
       ziemlich durchgreifend.
       
       Das amerikanische Interesse an der Entnazifizierung lässt mit Blick auf den
       Kalten Krieg aber bald nach. 
       
       Satjukow: Das könnte man für die sowjetische Besatzungszone auch so sagen.
       Die Rotarmisten waren zunächst sehr engagiert, aber nicht so organisiert
       wie die Amerikaner und Briten mit ihren Entnazifizierungsplänen. Die
       Sowjets hatten wegen des verbrecherischen Überfalls auf ihr Land kaum Zeit
       gehabt, diesen Organisationsgrad zu erreichen, und ihre Lager waren in
       schrecklichem Zustand. Die Menschen dort verhungerten, übrigens wie die
       Sowjetrussen zu Hause auch. Die Besatzer beginnen ab 1946 mit der
       Bestrafung neuer Feinde – Gegner des antifaschistischen Regimes.
       
       Herbert: Im Westen lässt der Druck der Amerikaner seit 1947 nach, im Zuge
       des aufkommenden Kalten Kriegs. Aber auch aus Mitleid – es gibt viele
       Zeugnisse, dass Amerikaner und Briten die Situation der Deutschen
       bemitleidenswert fanden. Seit Ende 1947 bemühen sich die USA,
       Westdeutschland zu stabilisieren, und wollen angesichts der Stärke der
       Roten Armee einen Wehrbeitrag der Deutschen. Das führt dazu, dass die
       Deutschen im Westen völlig unverdient plötzlich in einer relativ starken
       Position sind.
       
       Der Druck, es mit der Aufarbeitung sein zu lassen, kommt aber auch aus der
       westdeutschen Gesellschaft. 
       
       Herbert: Ja, nicht zuletzt von den Kirchen. Die Bischöfe sagen, die
       Entnazifizierung sei ein ebenso großes Unrecht wie die Konzentrationslager.
       Das Ganze sei jetzt doch schon so lange her. Das war drei Jahre nach dem
       Krieg!
       
       Satjukow: Im Osten wird die neue kommunistische Führungsriege aus der
       Sowjetunion mitgebracht, die haben sich jahrelang im Exil auf die
       Machtübernahme vorbereitet. Jetzt übernehmen sie, natürlich unter der Ägide
       der Besatzer. Moskau tut, was es will, Ostberlin tut, was es will, und die
       Kommandanten in der Militäradministration tun, was sie wollen. Doch nicht
       alles geschieht unter Zwang. Vor allem den jungen Menschen unterbreiten sie
       ein verführerisches Angebot. Sie sagen: „Ihr habt Schuld auf euch geladen,
       aber wenn ihr euch am Aufbau des Antifaschismus beteiligt, lassen wir euch
       davonkommen. Dann werdet ihr für eure Beteiligung am Krieg nicht belangt.“
       Wir haben also eine Bevölkerungsgruppe, die weiterhin Funktionselite sein
       darf, natürlich um den Preis des Gehorsams.
       
       Der Faschismus wird zu einem Problem des Kapitalismus, also des Westens,
       erklärt. 
       
       Satjukow: Gleich zu Beginn wird ein Mythos der „Befreiung“ etabliert –
       anders als im Westen. Die Sowjets sagen: Wir befreien euch doppelt, vom
       Faschismus und vom Kapitalismus. Und sie versprechen Jobs und Belohnungen.
       Natürlich brauchen sie auch willfährige Deutsche. Denn viele Menschen sind
       in den Westen geflüchtet. Es gibt also Positionen und Wohnraum zu
       verteilen. Aber es gibt noch eine zweite Seite: In den Ritualen des Mythos
       werden die Ostdeutschen weiterhin Jahr für Jahr an die eigene Kriegsschuld
       erinnert. Jahrzehnte später bekennen sie tatsächlich ihre Verantwortung.
       Auf eine Anfang der 1990er Jahre gestellte Frage: „Wer sind die Sieger des
       Zweiten Weltkriegs?“, antworten 67 Prozent der Westdeutschen: die USA; 87
       Prozent der Ostdeutschen: die Sowjetunion.
       
       Herbert: Die Opfer der Sowjetunion werden im Westen bis heute eigentlich
       nur begrenzt wahrgenommen. Dieser Kriegsende-Diskurs ist insgesamt sehr
       deutsch geprägt. In Deutschland weiß man sehr wenig darüber, was in den
       Niederlanden geschah, in Italien, von Polen und der Sowjetunion ganz zu
       schweigen. Das ist eine deutsche Nabelschau, wenn das Kriegsende nicht als
       europäisches Phänomen wahrgenommen wird. Selbst von linker Seite wird es in
       Deutschland oft als nationales Ereignis gesehen.
       
       Satjukow: In Ostdeutschland findet man nicht so eindeutig einen rein
       nationalen Erinnerungsdiskurs, vielmehr war es eine Gemengelage aus
       deutschen und sowjetischen Erzählungen. Im Privaten sprach man sehr offen
       etwa über Gewalttaten. Gleichzeitig wurden Generationen von Kindern mit der
       offiziellen Erzählung von der Befreiung vom „Hitlerfaschismus“ durch die
       „Freunde“ groß: In Filmen, Romanen, Kinderzeitschriften und
       Jugendpioniermanövern erfuhren sie von den sowjetischen Opfern. Sie
       verstanden, dass die Sowjetunion viele Millionen Menschen verloren hatte –
       durch die Schuld der Deutschen.
       
       Herbert: Da gibt es ein interessantes Paradox zwischen Ost und West. In der
       Bundesrepublik gibt es zunächst eine enorm hohe Kontinuität von NS-Tätern,
       die wieder Karriere machen. Und eine starke Verdrängung der Nazizeit im
       Volk. Aber beides, Täterkontinuität und Verdrängung, war ein solcher
       Skandal, dass es tief greifende Reaktionen hervorrief, die bis heute
       nachwirken. Die NS-Aufarbeitung kommt seit den 1960er Jahren von unten, sie
       wird nicht von oben verordnet. In den 1970er Jahren wird dann auch
       zunehmend die private NS-Belastung thematisiert, während es ein
       entlastendes Gesamtnarrativ nicht mehr gibt. In der DDR ist es andersrum.
       Es gibt das offizielle antifaschistische Staatsverständnis, das die
       individuelle Biografie aber nicht einbezieht. Das führte zu einer
       antifaschistischen Grundhaltung, die mit einem selber gar nichts zu tun
       hat.
       
       Satjukow: Die Ostdeutschen lebten mit ihren Familienerzählungen über die
       Russen ebenso wie mit dem offiziellen antifaschistischen Mythos. Sie alle
       mussten sich mit diesen Schlüsselerfahrungen auseinandersetzen – wie sie
       sich diese aber aneigneten, war höchst unterschiedlich. Viele blieben bei
       ihrer Ablehnung gegenüber den Besatzern, andere richteten sich ein, lernten
       auch die gute Seiten der Russen kennen. Wieder andere verschrieben sich
       begeistert der Sache des Sowjetkommunismus.
       
       Wie sieht das konkret aus? 
       
       Satjukow: Einer meiner Kollegen war im Kriegsgefangenenlager in Sibirien
       inhaftiert. Er kehrte Ende der 1940er Jahre zurück, im Herzen war er nun
       Kommunist. Er hat keine Kritik an seinen einstigen Peinigern mehr
       zugelassen, er war quasi wiedererweckt worden für die Sache des
       Antifaschismus. Auf der anderen Seite lebt da ein Buchhändler in meiner
       Heimatstadt Weimar, dem die Russen nicht nur den Vater genommen, sondern
       auch seinen Laden enteignet hatten. Niemals bekamen die Russen da nur die
       geringste Chance auf Akzeptanz.
       
       Die unterschiedlichen Phasen der Aufarbeitung in der BRD kann man gut
       unterscheiden. Wie ist das im Osten, Frau Satjukow? 
       
       Satjukow: In den 1950ern setzt man auf mythische Verklärung. Es entstehen
       Monumentalfilme mit Stalin in der Hauptrolle. Siegerfilme, die das
       ostdeutsche Publikum so kurz nach dem Krieg ablehnte. Für die Botschaft
       „Die Russen sind die Sieger“ waren sie noch nicht bereit. Das änderte sich
       mit der Tauwetterperiode ab Ende der 1950er Jahre. Es kamen nun Bücher und
       Filme auf den Markt, die den sowjetischen Normalbürger als gezeichnetes
       Kriegsopfer darstellten. Über ein Jahrzehnt nach dem Krieg zeigten sich die
       Ostdeutschen bereit, Mitgefühl für ihre einstigen Feinde zu verspüren. Es
       waren ja – wie sie selbst – Betrogene, wehrlos, hilflos. Die wirkliche
       Wende aber kam mit Michail Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre. Nun kommen
       Programme ins Kino und Bücher in die Läden, die den Zweiten Weltkrieg
       brutal und realistisch zeigen. Die Führung in Ostdeutschland reagierte
       entsetzt: Solche Erzählungen widersprachen der eigenen, jahrzehntelang
       oktroyierten Propaganda vom Krieg. Diese Filme und Bücher blieben in der
       DDR fast alle unter Verschluss – bis zur friedlichen Revolution 1989.
       
       Wie entwickelt sich das Erinnern seit 1990? 
       
       Herbert: Da dominierte bei vielen Konservativen die Haltung: „Jetzt ist es
       mal gut mit der NS-Zeit. Wir haben ja jetzt die Berliner Republik und
       fangen ganz neu an.“ Die irrten sich gründlich. Das Jahrzehnt der
       intensivsten Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sind die 1990er Jahre. Da
       kommt die Debatte über die Zwangsarbeiterentschädigung, die
       Wehrmachtsausstellung, das Holocaustdenkmal, Martin Walsers Rede in der
       Paulskirche – es hört gar nicht auf. Und das Narrativ, dass es jetzt auch
       um ost- und westdeutsche Unterschiede gehe, spielt bei alldem eigentlich
       keine Rolle. Mit der Wiedervereinigung war die NS-Debatte gerade nicht zu
       Ende.
       
       Satjukow: 1989 brach das ostdeutsche Narrativ von der „Befreiung“ durch die
       Rote Armee weitgehend zusammen – wie so viele andere Erzählungen des
       Sozialismus. Die Ostdeutschen schickten nicht nur ihre eigene Regierung und
       die Stasi, sondern auch die Russen als Sündenböcke in die Wüste. Die Russen
       galten in den frühen 90ern als mitschuldig am ostdeutschen Elend. Nach
       wenigen Jahren aber passierte etwas Unerwartetes: Die vor allem durch die
       Medien kommunizierte Entwertung ostdeutscher Lebenswege führte dazu, dass
       vor allem die älteren Generationen überlegten: Wie kriegen wir unser Leben
       wieder so erzählt, dass es von Wert ist? Sie erinnerten sich, dass sie ein
       besonderes Wissen über die Sowjetunion, über die Russen besaßen. Sie
       sprachen Russisch, kannten Kultur und Alltag. Das hatten sie den
       Westdeutschen voraus. Bis heute zeigen sie ihre vermeintliche besondere
       Nähe etwa auf T-Shirts und Postkarten: „Wer das nicht lesen kann, ist ein
       dummer Wessi“ steht dort in kyrillischer Schrift.
       
       Man ist stolz auf die Vergangenheit mit den Russen? 
       
       Satjukow: Damit sagt man: Die Russen, „Timur und sein Trupp“, und diese
       ganzen Romane, die ihr Westdeutschen nicht kennt, gehören zu uns! Ende der
       90er Jahre werden die einstigen Besatzer nachträglich zu Freunden erklärt.
       Sie geraten zu einem Teil der eigenen Biografie – in Abgrenzung von den
       Westdeutschen. Und das beeinflusst bis heute auch die ostdeutsche Bewertung
       von Putins Politik, etwa der Krim-Okkupation. Nicht selten fallen die
       Urteile anders aus als im Westen.
       
       Wenn wir auf die Debatten seit den nuller Jahren schauen, gibt es die um
       den Luftkrieg, dann das Tagebuch der Anonyma, das von den russischen
       Vergewaltigungen erzählt. Das Leid der Deutschen rückt stärker in den
       Fokus. 
       
       Herbert: Ich würde sagen, es war höchste Zeit. In der Bundesrepublik hatte
       es bis in die 60er Jahre zunächst ein Primat der deutschen Opfer gegeben,
       insbesondere der Vertriebenen. Die Zahl der Bücher über sie war etwa in der
       Universitätsbibliothek Freiburg damals fast dreißigmal so hoch wie die der
       Bücher über Juden. Dann hat sich das seit den 60er Jahren geändert, und
       zwar so, dass es schon als verdächtig galt, an das Leid der Bombenopfer und
       vergewaltigen Frauen zu erinnern. Deshalb war es ein wichtiger Schritt, zu
       erkennen, dass man die NS-Verbrechen nur angemessen aufarbeitet, wenn man
       die an den Deutschen begangenen Verbrechen nicht verschweigt. Erst dann
       werden die Erinnerungen der Menschen nicht zensiert, nur dann entsteht
       Lernbereitschaft – und es werden die Größenordnungen sichtbar.
       
       Stimmt das Bild heute denn? 
       
       Herbert: Wir sind immer noch nicht am Ende. Wir haben bis heute noch kein
       angemessenes Narrativ, wie wir unserer Großväter, Väter, Onkel, die als
       deutsche Soldaten gekämpft haben und zu Millionen gestorben sind,
       angemessen gedenken. Ist ja auch schwierig in diesem Land.
       
       Satjukow: Was mich in Bezug auf unsere Erinnerung umtreibt, ist: Wie werden
       wir unser Gedenken an die Großväter und Großmütter in eine europäische und
       digitalisierte Gesellschaft einbetten? Ein Beispiel: Der Dreiteiler „Unsere
       Mütter, unsere Väter“ ist in mehr als sechzig Länder verkauft worden.
       Solche Filme müssen sich einem globalen Unterhaltungswettbewerb stellen.
       Aber was bedeutet das für ein nationales und europäisches Gedächtnis?
       
       Herbert: Ein gutes Beispiel. Die ja doch sehr problematischen Seiten dieses
       Films sind öffentlich kritisiert worden. Und die Diskussion hat das Bild
       wieder zurechtgerückt. So nett, naiv und unschuldig waren unsere Mütter und
       Väter eben nicht.
       
       Satjukow: Wir haben die Erstausstrahlung mit einem Forschungsprojekt
       begleitet. Uns interessierte vor allem die Aneignung durch verschiedene
       Generationen. Wir fanden heraus, dass die auf europäischer Ebene geführten
       Expertendiskurse mit den Verständigungen meist junger Leute in den
       digitalen Plattformen kaum etwas gemein hatten. Es existierten praktisch
       voneinander abgekoppelte Geschichtserzählungen. Diese digitalen Räume
       sollten wir Experten besser kennenlernen.
       
       Macht Ihnen das Sorgen? 
       
       Satjukow: Die Aushandlung dessen, was als authentische Geschichte zu gelten
       hat, erreicht im Internet eine neue Schwelle. Denn der Prozess der
       Meinungsbildung in den Communitys qualifiziert Narrative und Bilder als
       historische Tatsachen, die keineswegs dem Stand der historiografischen
       Erkenntnis entsprechen – auch für die politische Meinungsbildung
       möglicherweise eine problematische Entwicklung: Rechte Meinungsmacher oder
       Revanchisten, Extremisten und Fundamentalisten jedweder Couleur sind dabei,
       diese Kommunikationsprozesse an sich zu reißen. Das bereitet mir Sorgen.
       
       Herbert: Mir nicht. Echokammern hat es immer gegeben. Die Romanserie mit
       den höchsten Auflagen in den 60er und 70er Jahren in der BRD hieß
       „Landser“. Da gab es jede Woche ein Heft. Solche Echokammern haben ihre
       eigene Dynamik und sind von uns Historikern auf direkte Weise nicht
       beeinflussbar. Was wir beeinflussen können, ist die rationale Herausbildung
       kultureller Hegemonien. Nehmen wir die Wehrmachtsausstellung, die einer
       breiten Öffentlichkeit die Verbrechen der Wehrmacht gezeigt hat. Die hat in
       den öffentlichen Debatten etwas verändert und lieb gewordene Mythen wie den
       von der „sauberen Wehrmacht“ zertrümmert.
       
       Satjukow: Es ist ein Unterschied, wenn mein Schwiegervater früher am
       Stammtisch gesagt hat: „War nicht alles schlecht unter Hitler.“ Am nächsten
       Tag wusste niemand mehr, was da geredet wurde. Das unterscheidet den
       Stammtisch von einem millionenfach angeklickten Echoraum. Das ist anders –
       und wir verstehen diese Art der Geschichtsaneignung bisher noch kaum.
       
       Herbert: Einverstanden. Aber es hat immer eine autonome Aneignung der
       Vergangenheit durch die jüngere Generation gegeben – und zwar eine, die den
       Älteren meist nicht passte. Wir können da nicht anders als mit Aufklärung
       reagieren: klare, belegbare Informationen und Argumente liefern. Und das
       funktioniert ja auch. Der direkte Zugriff auf die Aneignungssysteme der
       Jungen muss aber scheitern.
       
       Was machen wir jetzt mit diesem Tag, dem 8. Mai? 
       
       Herbert: Das, was wir gerade tun. Wir reden darüber, wir schauen uns Filme
       an, wir diskutieren. Wir fragen uns: Ist das angemessen? Wobei mir scheint,
       dass in öffentlichen Diskussionen oft der Grundsatz gilt: viel Meinung,
       keine Ahnung. Es ist schon sinnvoll, wenn man auch weiß, was im letzten
       Kriegsjahr geschehen ist, wenn man über den 8. Mai spricht.
       
       Satjukow: Wir machen das, was einer Demokratie gut zu Gesicht steht: Wir
       nutzen diesen Tag, um uns als Gesellschaft zu vergewissern, wie wir heute
       und künftig leben wollen. Dazu gehören zwangsläufig unterschiedliche
       Perspektiven – immer aber das Reden und die Verständigung.
       
       5 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Pfaff
       
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       verschleppt, erlebte das Kriegsende in Schwäbsch Hall.
       
   DIR Kriegsende vor 75 Jahren: Wo die Nazis kapitulierten
       
       Was mit der Machtübernahme der Nazis 1933 begann, fand hier vor 75 Jahren
       sein Ende. Zu Besuch in der Pionierschule in Berlin-Karlshorst.
       
   DIR Kriegsende vor 75 Jahren: Opfer, Täter, Denkmäler
       
       In Osteuropa wird die Erinnerungspolitik nationaler. In Berlin streitet
       man, wie man an den Vernichtungskrieg im Osten erinnern soll.
       
   DIR Umgang mit Zweitem Weltkrieg in der DDR: Unterm Gras die Knochen
       
       Der Krieg war vorüber. Eltern und Kinder misstrauten sich wie Fremde.
       Wieder jagten die Jungs mit den Hakenkreuzen Menschen. Nichts war vorbei.
       
   DIR Ende des Zweiten Weltkriegs am 2. Mai: Sieg über Fanatismus und Fantasie
       
       An den Wänden stehen Durchhalteparolen. Die Berliner suchen Schutz in
       U-Bahnhöfen. Am 2. Mai 1945 erobert die Rote Armee die Hauptstadt
       Nazideutschlands.
       
   DIR Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes: Ein Feiertag zum Gedenken
       
       Corona macht ein Kulturprogramm sowie Gedenkveranstaltungen unmöglich. Als
       Ersatz finden diese nun virtuell statt. Petition für dauerhaften Feiertag.
       
   DIR Befreiung Bremens vor 75 Jahren: Als die Briten nach Bremen kamen
       
       Am 27. April 1945 wurde Bremen befreit. Nach einem Bericht des britischen
       Korrespondenten Harry Ditton freute sich die Bevölkerung damals nicht.
       
   DIR Die „Operation Greenup“ in der NS-Zeit: Der Sommer des Widerstands
       
       Jüdische Antifaschisten halfen, die „Alpenfestung“ von den Nazis im Mai
       1945 zu befreien. Vor allem katholische Frauen unterstützten sie dabei.