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       # taz.de -- Fußball in der Coronakrise: Chance gegen Maßlosigkeit
       
       > Der europäische Profifußball hat sich in den vergangenen Jahrzehnten
       > radikal verändert. Der Lockdown bietet die Möglichkeit, innezuhalten.
       
   IMG Bild: Das Runde muss ins Eckige – auch nach Corona, aber im besten Fall mit mehr Bedacht
       
       Frage: Was haben Ipswich Town, Steaua Bukarest, KV Mechelen, Roter Stern
       Belgrad, Aston Villa und IFK Göteborg gemein? Nun, sie haben noch in den
       80er Jahren Europapokale gewonnen. Damals, als der Fußball in Europa seine
       Blüten zwischen den großen politischen Blöcken hindurchzwängte und noch
       nicht als Auswuchs eines beschleunigten Kapitalismus daherkam, konnten sich
       noch Mannschaften aus Ländern Hoffnung auf die großen Pokale des
       Fußballverbandes Uefa machen, Teams, die heute mehr oder weniger in
       Randlagen ihr Business aufziehen, Opfer der Geschichte geworden sind oder
       auf dem Grabbeltisch, an dem sich Geldgeber aus Fernost, den USA oder dem
       Persischen Golf regelmäßig bedienen, nie zuoberst lagen.
       
       Der Fußball in Europa hat sich, beginnend in den 90er Jahren, radikal
       verändert: Er ist schneller, schöner, spektakulärer geworden. Einerseits.
       Auf der anderen Seite ist er exzessiv, maßlos und berechenbar geworden.
       
       Letzteres ist ein Problem, denn Wettkämpfe leben nun einmal davon, dass man
       nicht schon am ersten Spieltag weiß, wer am Ende der Saison Meister wird –
       Fans in Italien oder Deutschland können ein Lied davon singen. Wir reden
       also von Chancengleichheit, Gerechtigkeit, von Abwechslung. In den USA sagt
       man competitive balance zu einem Mechanismus, der die unterschiedlichen
       Gewichte in den Sportligen auszutarieren versucht. Dort operieren sie mit
       einem Instrumentenkasten, der auch für Europa interessant sein könnte: Das
       Draftsystem, der Salary Cap oder die Luxussteuer sind Versuche,
       Ausgeglichenheit und ähnliche Startbedingungen für alle zu simulieren.
       
       Sicherlich: Die Ligabosse sind keine Altruisten, sie wollen mit der
       Simulation von Verteilungsgerechtigkeit ihr „Produkt“ am Markt halten, sie
       haben zumeist auch keine Ahnung von den Traditionen in Europa, dem offenen
       Ligabetrieb mit Auf- und Abstieg, der großen Rolle der Fans in
       „eingetragenen Vereinen“, von der [1][50+1-Regel] der deutschen Bundesliga.
       Und doch ist der Druck, am bestehenden europäischen System etwas zu ändern,
       groß.
       
       ## Das System ist halb Meritokratie, halb Oligarchie
       
       In dem Moratorium, das uns das Coronavirus aufzwingt, ist Zeit, über
       Veränderungen am bestehenden System nachzudenken. Wäre es nicht super, wenn
       der KV Mechelen international wieder etwas reißen könnte, IFK Göteborg,
       Ipswich Town? Brauchen wir nicht mehr Diversität auf den großen Bühnen des
       Fußballs? Finden wir uns damit ab, dass die Champions League am Ende immer
       nur von einer Handvoll Klubs aus Spanien, England, Italien und Deutschland
       beherrscht wird? Hat Europa nicht über 50 Nationen? Warum nehmen es die
       Fußballfans hin, vor allem kritische Ultragruppierungen, dass Europas
       Fußball wie eine große Zentrifuge funktioniert: Wer nicht die Kraft hat,
       sich an den Finanztöpfen festzukrallen, wird ins Abseits befördert?
       
       Es gibt hierzulande natürlich Versuche der Regulierung. Das in dieser
       Dekade von der Uefa eingeführte [2][Financial Fairplay] ist eine Maßnahme,
       um die Exzesse der großen Mäzenatenklubs einzudämmen, aber sie darf trotz
       der aktuellen Anklage von Manchester City als gescheitert gelten, weil sich
       die Uefa in den vergangenen Jahren darauf versteifte, kleine Vereine wie KF
       Tirana, FC Irtysch oder Kardemir Karabükspor symbolisch abzustrafen. Im
       Grunde blieb alles beim Alten: Die Topklubs um Bayern München, Juventus
       Turin, Real Madrid, FC Barcelona, Paris Saint-Germain oder Liverpool FC
       wuchsen, die anderen kamen nicht mehr mit. Sie zementierten ihre
       Sonderrolle und profitierten überproportional von den Einnahmen in der
       Champions League, die 2008 bei 821,9 Millionen Euro lagen und 2019 schon
       bei 2,853 Milliarden.
       
       Das Muster wiederholt sich im Großen wie im Kleinen. Die Champions League
       funktioniert wie ein Katalysator in einem Prozess, den natürlich auch die
       Premier League in England, die Serie A in Italien, die Primera Division in
       Spanien oder – mit Abstrichen – die Bundesliga bestimmt.
       
       Der Zugang zu den Fleischtöpfen ist für die meisten Klubs zu einem Nadelöhr
       geschrumpft. Sie haben sich, obgleich als Erstligisten firmierend, mit
       ihrer Zweit- und Drittklassigkeit abgefunden. Dieser Fatalismus der, nennen
       wir sie: Privilegiert-Prekären muss durchbrochen werden, damit der
       europäische Fußball wieder atmen kann – und nicht in einem System
       verkrustet, das halb Meritokratie, halb Oligarchie ist.
       
       Selbst Uefa-Chef Aleksander Ceferin sieht dringenden Handlungsbedarf. „Wir
       müssen daran arbeiten, einen ausgeglicheneren Wettbewerb zu schaffen“,
       sagte er im Vorjahr in einem [3][Spiegel-Interview] und schob die Frage
       hinterher: „Aber wie machen wir das?“ Tja, wie? Wären Draftsystem, Salary
       Cap und Luxury Tax nicht ein Anfang? Hat uns Corona nicht gelehrt, dass so
       manches machbar ist, wenn Dinge getan werden müssen?
       
       2 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /St-Pauli-Praesident-ueber-Investitionen/!5493555/
   DIR [2] /Financial-Fair-Play-der-Uefa/!5665410&s/
   DIR [3] https://www.spiegel.de/sport/uefa-praesident-aleksander-ceferin-die-meisten-scheitern-an-ihrer-gier-a-00000000-0002-0001-0000-000164076205
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Markus Völker
       
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