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       # taz.de -- Die Welt nach den Menschen: Luchs und Wisent grüßen sich
       
       > Wenn das Zeitalter der Menschen zu Ende ist, beginnt ein neues. Das wird
       > nicht so apokalyptisch, wie manche denken. Zumindest aus Sicht der Tiere.
       
   IMG Bild: Und wer fährt?
       
       Nehmen wir an, die Menschheit wäre an einem tödlichen Virus zugrunde
       gegangen, ausgestorben. Im Misanthropozän träumt man schon mal von so was.
       Was würde passieren? Beobachten kann man so etwas seit der
       Reaktorkatastrophe von Tschernobyl: Ein menschenentleertes Gebiet erweist
       sich für die Pflanzen- und Tierwelt als „wahres Paradies“, wie Biologen
       diese „Todeszone“ nennen. [1][Was in den Nationalparks bewaffnete Wächter
       tun], die Störungen in der natürlichen Entwicklung der Arten verhindern,
       das besorgt in Tschernobyl die radioaktive Strahlung.
       
       Unter den Insekten verursachte sie anfangs Missbildungen. Aber die
       unbenutzten Flächen mit Wasser, Wäldern, Wiesen wirkten wie ein Magnet auf
       die Pflanzen und Tiere.
       
       Vögel und Fledermäuse hatten als Erste die 3.500 Quadratkilometer große
       „Sperrzone“ rekognostiziert. Aber wie wir aus den imperialistischen Kriegen
       wissen: Die Lufthoheit allein tut es nicht, man braucht Bodentruppen. Und
       die kamen auch: Rehe, Hirsche, Elche, Mäuse, Wölfe, Füchse, Biber,
       Fischotter, seit Kurzem auch [2][Wisente]. Und diese Tiere zogen wieder
       andere Tiere und Pflanzen nach sich, nicht zuletzt Insekten. Bald waren
       alle Nischen besetzt und die Nutzpflanzen verschwunden. In einem solchen
       „Schutzgebiet“ kann es nur eine „Ökologie ohne Natur“ geben, denn „die
       Natur“ – oder was man so nennt – wäre mit den Menschen verschwunden.
       
       Die Idee stammt vom Philosophen Timothy Morton. In seinem gleichnamigen
       Buch versteht er darunter eine Menschheit, die sich mit der sie umgebenden
       Restnatur so innig identisch macht, dass sich der Naturbegriff auflöst. Die
       Entwicklung geht heute noch in die entgegengesetzte Richtung einer
       Auflösung der Biologie – in Physik und Chemie.
       
       ## Schwache Dörfer, starke Wölfe
       
       Es gibt viele von Menschen verlassene Riesenflächen. Der Philosoph Fahim
       Amir spricht in seinem Buch „Schwein und Zeit'“ (2018) statt von einem
       „Paradies“ von einem „ironischen Artenschutz“ – dank ABC-Waffenproduktion:
       Allein in den USA gibt es 3.000 damit „verseuchte Gebiete“. Ihre Entgiftung
       ist unfinanzierbar. Als Biologen entdeckten, dass sich dort viele Tiere und
       Pflanzen ansiedelten, machten sie daraus die „ironischsten Naturparks der
       Nation“, wo Ranger und Wissenschaftler Jobs fanden. Den Begriff prägten die
       im „Denver Rocky Mountain Arsenal“ der U.S. Army (dem giftigsten Ort
       Amerikas), auf einem Areal von 69 Quadratkilometern arbeitenden
       Naturschützer für das sich dort seit 1984 entwickelnde „Wildlife“.
       
       Ein solches kann sich auch ohne Gifte und gefährliche Strahlen entwickeln,
       wenn die Menschen sich zurückziehen: Allein in Sibirien betrifft das weit
       über 15.000 Dörfer, die man teils nicht mehr sieht, weil Pflanzen sie
       überwucherten und Wind und Wetter sie flachlegten. Es gibt dazu eine
       „Schwache Dörfer – starke Wölfe“-Theorie. Überall werden Siedlungen
       aufgegeben. Der Stern berichtete 2019 über „Geisterdörfer, -hotels und
       -industrieanlagen“ – in Thüringen. An all diesen Orten entwickelt sich
       sofort ein reges Fauna-und-Flora-Leben.
       
       Die Elbe trennt Klimaräume: Westdeutschland ist atlantisch geprägt und
       Ostdeutschland kontinental. Im Grunde reicht im Osten die boreale Zone,
       Tundra und Steppe bis in die Mongolei. Dementsprechend waren einst auch
       ihre Tiere und Pflanzen verbreitet. Als das ZDF einen Film über die Wolga
       drehte, verpflichteten sie Wladimir Kaminer, etwas mehr Russisches in den
       Film zu bekommen, denn: „Die Landschaft ist zwar wunderschön, aber
       exotische Tiere kann die mittelrussische Ebene nicht bieten.
       
       Die Fauna an der Wolga ist den Deutschen gut vertraut, Wildschweine und
       Elche, Biber und Schildkröten, Adler, Mäuse und viele Mücken. Das einzige
       Tier, das es nur an der Wolga gibt, ist der [3][Desman]: ein
       Wassermaulwurf.“ Er wurde wegen seines Fells stark verfolgt, nun aber, ohne
       Menschen, wird er sich langsam bis an die Elbe verbreiten – und darüber
       hinaus. Es gibt noch eine Wassermaulwurf-Art in den Pyrenäen, sie waren
       einst wohl über ganz Europa verbreitet.
       
       An der Eismeerküste und auf den arktischen Inseln hatten die Sowjets
       Moschusochsen aus Alaska angesiedelt, kürzlich auch noch eine kleine
       Bisonherde. Diese würden sich langsam – wie die Rentiere – nach Westen
       ausbreiten. Ebenso die Braunbären, die es sich im Winter in verlassenen
       Häusern gemütlich machen.
       
       Andere Tiere, wie Rehe, Hirsche, Wildschweine und Wisente, hat der Mensch
       in den Wald und zu einer nächtlichen Lebensweise gezwungen. Sie würden auf
       den Agrarflächen und Parkanlagen wieder ans Tageslicht kommen, denn hier
       können sie ihre Fressfeinde – Wölfe, Luchse, Vielfraße und Bären – schon
       von Weitem wahrnehmen.
       
       Wegen der Pandemie hungern derzeit die Stadttiere, denn es fallen nicht
       mehr so viele Lebensmittelreste ab. Die Dohlen ernähren sich in Berlin
       schon in normalen Zeiten schlecht: Zwar finden sie genug Kohlehydrate
       (Brot), aber sie brauchen für die Aufzucht Eiweiß (Insekten, Würmer). Die
       Sterberate der in der Stadt geborenen Jungen liegt bei 70 bis 100 Prozent,
       auf dem Land nur bei 25 Prozent. Bei den Krähen in New York ist es anders,
       sie fressen zu viel Eiweiß und Fett (Hamburgerreste), weswegen sie einen zu
       hohen Cholesterinspiegel haben.
       
       Wenn die Städte ausgestorben sind, wird sich das ändern, die verwilderten
       Haustauben werden höchstwahrscheinlich verschwinden, aber die Dohlen werden
       in den Häusern mit zerbrochenen Fenstern und in den geborstenen Kirchtürmen
       sicherlich genug Nistplätze finden – und, da die Insekten wieder mehr
       werden, auch auf alle Fälle genug Nahrung für ihre Jungen. Siebenschläfer,
       Marder, Waschbären, Marderhunde, Ratten, Fledermäuse und Mauereidechsen
       ziehen an und in die fast unverwüstlichen Plattenbauten. Ähnliches gilt für
       Schwalben. Zürcher Stadttierforscher erklären sich das derzeitige
       Verdrängen der Schwalben durch die Mauersegler damit, dass diese „moderner“
       als die Schwalben sind. In zerfallenden Städten könnte es aber wieder
       umgekehrt kommen.
       
       ## Tierisches Gang-Leben
       
       Zoologen gehen derzeit davon aus, dass von allen Raubkatzen nur die
       Hauskatzen überleben werden. Ohne Menschen würde jedoch das Gegenteil
       eintreten: Die kleinen Katzen werden von größeren Raubkatzen und von großen
       Raubvögeln gefressen. Die Haushunde schließen sich dagegen zu Rudeln
       zusammen und beanspruchen ganze Straßenzüge. So etwas ist in Moskau schon
       jetzt der Fall. In Italien hat man festgestellt: Ihre Reviere sind um
       Müllhalden zentriert, etwa 57 Quadratkilometer groß, die Reviere der Wölfe
       umfassen rund 285 Quadratkilometer. Dafür verlagern sich die Reviere der
       Hunde, wenn sich eine neue Nahrungsquelle auftut, und gelegentlich
       unternehmen sie Streifzüge über die Grenzen ihres Reviers hinaus.
       
       In Berlin wird es also wahrscheinlich die „SO36-Boys“ und die
       „Wedding-Gang“ weiterhin geben. Die Biber werden derweil ganze Kieze
       wiedervernässen, und Holzbockkäfer zusammen mit Birken die Dächer der
       Bürgerhäuser zum Einsturz bringen.
       
       Die menschengemachte Klimaerwärmung wird sich erledigt haben, aber man muss
       wohl damit rechnen, dass die afrikanischen Großtiere irgendwann erneut nach
       Europa vordringen. Gewiss ist, dass einige noch laufende Atomkraftwerke –
       ohne Menschen – explodieren und beim Zerfall von Fabriken jede Menge Gifte
       frei werden, wobei etliche Ausbreitungsversuche von Pflanzen und Tieren
       Rückschläge erleiden.
       
       Aber das macht nichts, denn es verhindert auch die erneute Ansiedlung
       menschenähnlicher Arschlöcher – von anderen Planeten.
       
       1 May 2020
       
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