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       # taz.de -- Soundkünstler aus der Lombardei: Schachmatt? Eher ein Lebenszeichen!
       
       > Der italienische Elektronik-Bilderstürmer Lorenzo Senni klingt zuweilen
       > fast barock. Sein Album „Scacco Matto“ ist tröstender Pop mit
       > Fallstricken.
       
   IMG Bild: Er hat mit dem Sound der Intensivstation gearbeitet: Lorenzo Senni
       
       Im italienischen Bergamo entschärft sich die Lage allmählich. Die
       „Lockdown“-Maßnahmen der Stadt und der Region Lombardei greifen, endlich.
       Vor Kurzem war die Intensivstation im Krankenhaus Papa Giovanni XXIII. noch
       überfüllt, Ärzte mussten entscheiden, wer gegen das Coronavirus behandelt
       wird und wer nicht, es gab zu wenig Beatmungsgeräte. Die Bilder haben wir
       im Kopf, nur der Klang blieb uns verschlossen.
       
       Wie klingt eine Intensivstation? Vergleichsweise leise, auch still und
       steril, piepsende Geräte, gedämpfter Sound – hoffentlich – im
       gleichbleibenden Takt von der Genesung des*der Patientin zeugend. Um die
       Beklemmung, die sich aus diesem akustischen Szenario ergibt, abzumildern,
       entschied sich das Krankenhaus Ende 2018, eine permanente Soundinstallation
       in die Flure der Intensivstation zu legen: Sie heißt „Canone Infinito“
       (Unendlicher Kanon) und stammt von dem italienischen Musiker und
       Soundkünstler Lorenzo Senni. Seit Februar war sie ob des Coronafurors
       abgeschaltet.
       
       Senni ist unweit von Bergamo aufgewachsen. Nun veröffentlicht er das Album
       „Scacco Matto“ beim britischen Label Warp. „Scacco Matto“ bedeutet Schach
       Matt – und wirkt derzeit mehr wie ein Fluch, eine böse Vorahnung dessen,
       was zwischen Ankündigung (im Januar) und heute alles passiert ist.
       Eigentlich sollte es ein Werk über das Hadern werden. Es sollte davon
       handeln, wie ein Künstler, der sich seit 2010 zu einer festen Größe der
       abstrakten elektronischen Tanzmusik entwickelt hat, sich immer wieder
       selbst hinterfragt: weil der Erfolg einerseits auf Trademark-Sound beruht,
       er diesen andererseits nicht unendlich ausschlachten möchte.
       
       Sennis Stil wird oft als „Pointilismus“ bezeichnet; Töne werden bei dem
       37-Jährigen wie bei einem Gemälde punktuell gesetzt und imitieren trotz
       ihrer vereinzelten Bestandteile, die keine Übergänge kennen, Clubmusik. Er
       selbst nennt es „Rave Voyeurismus“, was seine Rolle als Außenseiter betont.
       Fakt ist: Sennis Tracks klingen zumeist wie Rave und Trance der Neunziger,
       befreit von „der Last“ des Bassfundaments. Senni konzentriert sich auf die
       mittleren Tonhöhen; wo ehedem Drogen konsumiert und Nächte durchgetanzt
       wurden, bleibt in seinen Stücken nur noch die highlighthafte Hookline
       übrig.
       
       Die Synthesizer, auf das Mittenspektrum begrenzt, nähern sich historischen
       Vorbildern an, klingen zuweilen wir Cembalos – Trance als Barock des 20.
       Jahrhunderts? Auch der unendliche Kanon ist eine Struktur, die man bei Bach
       und Händel findet.
       
       Sennis Klanginstallation im Krankenhaus berührt durch stets wiederkehrende
       Marimbamotive, die in Endlos-Schleife laufen. Trost sollen sie spenden,
       ablenken von den Abläufen der Medizin.
       
       Auf „Scacco Matto“ schaffte es eine veränderte Version: Hier meint man den
       Marimbalauf noch zu erahnen, ein Bass-Synth gibt die Richtung vor, spielt
       die Töne, strikt getrennt voneinander nach und nach runter. Betulich spült
       sich eine sirenenhafte Hookline in den Vordergrund, ein Cut-off-Filter wird
       zum Ende hin das Lied langsam beenden; es könnte dennoch ewig so
       weitergehen.
       
       ## Beherzt an der Affektpolitik drehen
       
       „Canone Infinito“ ist für Sennis Verhältnisse Pop, es dreht beherzt an den
       Knöpfen der Affektpolitik; berührend, vielleicht tatsächlich Trost
       spendend.
       
       Forsch geht es auf dem Album dennoch zur Sache. Schon beim Follow-up „Dance
       Tonight Revolution Tomorrow“ wird man 90 Sekunden lang veralbert und
       glaubt, dass die sanften Töne aus dem Unterholz des Maschinenparks die
       Stimmung aufrechterhalten wollen. Weit gefehlt: stakkatohafte Akkorde bei
       130 BPM erschrecken zuerst und erinnern dann an Jumpstyle, jenen
       Rummeltechno-Tanzstil der Nuller, der monotones Auf-und-ab-Hüpfen mit
       artistischen Beinverknotungen zusammenbrachte – und selbst schon Echo von
       Neunziger-Jahre-Gabbersound war.
       
       „Scacco Matto“ besteht aus acht Stücken, jedes referenzreich überladen –
       und trotzdem mehr als nur intellektueller Genuss. Sein Sound ist nachgerade
       Pop; mit gewissen Fallstricken experimenteller Natur versehen. So wird es
       unversehens zum Lebenszeichen einer ganzen Region, die fast
       zusammengebrochen ist, und weiter zu kämpfen hat – bis man die Klänge von
       „Canone Infinito“ im Krankenhaus Papa Giovanni XXIII. wieder hören kann.
       
       28 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lars Fleischmann
       
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