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       # taz.de -- Digitales Streitgespräch: Jung, politisch, divers
       
       > Rassismus, Hufeisentheorie, Klimakrise: Was der parteipolitische
       > Nachwuchs über Grundsatzfragen denkt – und worüber man sich einig ist.
       
   IMG Bild: Die Macht liegt oft bei den Älteren – aber was denken Jungpolitiker:innen über Grundsatzfragen?
       
       Eigentlich wollten wir junge Politiker:innen in die taz einladen, um
       mit ihnen über Grundlegendes zu sprechen: Wieso wird man Parteimitglied?
       Was verbindet, über Parteigrenzen hinweg? Welche sind die drängendsten
       Fragen der Zukunft – besonders für jene, die nicht nur heute über diese
       Zukunft sprechen, sondern auch in ihr leben werden? Dann kam Corona. Also
       luden wir nicht in die taz ein, sondern zum Videogespräch.
       
       Ricarda Lang (Grüne) schaltet sich als Erste hinzu, von einem Berliner
       Küchentisch aus. Hinter ihr steht eine große Zimmerpflanze, neben ihr ein
       Glas Wasser, das sie mehrmals nachfüllt. Merve Gül (CDU) sitzt mit Hoodie
       und Headset in Stuttgart und stellt sich als „digitales Familienmitglied“
       der Partei vor. Wie es sich für eine Videokonferenz gehört, läuft bei Rasha
       Nasr (SPD) im Laufe des Gesprächs jemand im Hintergrund durch ihre Dresdner
       Wohnung. Das obligatorische Bücherregal findet sich hinter Michel Brandt
       (Linke) in Karlsruhe, während Ria Schröder (FDP) in Hamburg vor einem Regal
       aus Weinkisten sitzt.
       
       Alle Teilnehmer:innen bekamen vorab Thesen, die sie mit Ja oder Nein
       beantworten sollten. Im Gespräch ließen wir dann pro These zwei
       gegensätzliche Positionen miteinander streiten. Wer unbedingt bei einer
       These mitreden wollte, konnte sich einschalten. Das Ergebnis? Ein digitales
       Streitgespräch über Vielfalt und Generationenkonflikte in der Politik, neue
       Selbstverständlichkeiten und die vielen, vielen Nuancen von Ja und Nein.
       
       ## „Ich stehe voll und ganz hinter meiner Partei“
       
       JA: Michel Brandt (Linke), Rasha Nasr (SPD)
       
       NEIN: Ria Schröder (FDP), Ricarda Lang (Grüne), Merve Gül (CDU)
       
       Ria Schröder: Ich denke liberal. Eigenverantwortung und Individualismus
       sind mir wichtig. Deshalb fällt es mir schwer, Teil eines Kollektivs zu
       sein und für Aussagen und Handlungen ande- rer geradestehen zu müssen, weil
       ja nie gänzlich die eigene Position getroffen wird. Aber das ist notwendig,
       um politisch etwas zu bewegen – deswegen bin ich ja Parteimitglied
       geworden. Ich will meine Partei zum Besseren verändern. Natürlich sagt auch
       mal jemand in der Partei etwas, was wir nicht gut finden.
       
       Michel Brandt: Ich stehe voll und ganz hinter dem Konzept einer Partei
       links der Sozialdemokratie in Deutschland. Das heißt überhaupt nicht, dass
       ich mit allem einverstanden bin, was diese Partei zum Ausdruck bringt.
       
       taz am wochenende: Wann waren Sie das letzte Mal nicht mit etwas
       einverstanden, was Vertreter:innen Ihrer Partei öffentlich gesagt
       haben? 
       
       Michel Brandt: Es gibt keinen Tag ohne Widerspruch, auch im eigenen Laden.
       Bei keinem Thema gibt es eine komplette Einigkeit. Das zeichnet ja auch
       gerade eine Partei wie die Linke aus, die aus den verschiedensten
       Strömungen entstanden ist.
       
       Ria Schröder: Aber es gibt Sachen, die sind schlimmer als andere. Absolut
       nicht einverstanden war ich, als Thomas Kemmerich die Wahl in Thüringen
       angenommen hat. Das war für mich eine ganz schwere Erschütterung, weil es
       für mich wichtig ist, Teil einer Partei zu sein, die ganz klar
       antifaschistisch ist und sich gegen Rassismus jeder Art wehrt. Wie sich die
       FDP da in Thüringen hat vorführen lassen, ging gar nicht. Da habe ich mich
       gefragt: Bin ich noch in der richtigen Partei? Das darf nicht noch mal
       passieren.
       
       ## „Ich bin ein Machtmensch“
       
       JA: Ricarda Lang (Grüne), Merve Gül (CDU)
       
       NEIN: Michel Brandt (Linke), Rasha Nasr (SPD), Ria Schröder (FDP)
       
       Ricarda Lang: Wenn man politisch etwas verändern will, dann muss man dafür
       Macht beanspruchen. Nicht als Selbstzweck, sondern als Gegenstück zur
       Ohnmacht. Ohnmacht hieße, den gesellschaftlichen Verhältnissen einfach
       ausgesetzt zu sein. Politische Macht zu beanspruchen heißt, die
       gesellschaftlichen Ver- hältnisse um sich herum gestalten zu wollen. Gerade
       Frauen wird aber oft abtrainiert, Macht zu beanspruchen. Das ist auch der
       Grund, weshalb ich als Frau sehr selbstbewusst sage: Ja, ich will Macht.
       
       Rasha Nasr: Ich kann dem zustimmen, habe aber mit Nein geantwortet, weil
       ich den Begriff „Machtmensch“ im klassischen Sinne definiere. Alles, was
       mit Politik zu tun hat, hat auch mit Macht zu tun – wie will man sonst
       etwas verändern? Aber die Geschichte hat gezeigt – auch weil Politik in der
       Vergangenheit sehr männlich geprägt war –, dass Machtmenschen vor allem
       ihre Stellung erhalten wollen. Ich wünsche mir Machtmenschen, die das
       solidarisch gestalten: Macht auf mehrere Schultern verteilen, zusammen
       etwas bewegen.
       
       ## „In meiner Partei gibt es Rassismus“
       
       JA: alle
       
       Ricarda Lang: Auch eine Partei, die klar antirassistisch ist, ist nicht
       automatisch frei von Rassismus. Weil wir uns nicht außerhalb der
       Gesellschaft bewegen. Rassismus bedeutet auch, dass Menschen Steine in den
       Weg gelegt werden. Auch in meiner Partei sind viel zu wenige Menschen mit
       Migrationshintergrund oder Rassismuserfahrungen in
       Verantwortungspositionen. Das wollen wir ändern.
       
       Merve Gül: Das zu negieren wäre von mir als CDU-Mitglied falsch. Ein
       aktueller Fall war die Aufstellung der Bürgermeisterkandidaten in
       Wallerstein, wo der CSU-Ortsverband eindeutig keinen muslimischen
       Kandidaten wollte. Meine Partei hat ein strukturelles Problem mit
       Rassismus. Es gibt immer noch Leute in der Union, die sagen, so etwas wie
       Rassismus gäbe es nicht. Die Wo-kommen-Sie-her-Frage ist der Klassiker, das
       ist eindeutig eine rassistische Frage. Man kann die Frage anders stellen.
       Ich glaube aber, dass wir hier untereinander – und das ist auch das
       Vorteilhafte in einer neuen Generation – sagen können: Es wird auf jeden
       Fall besser.
       
       taz am wochenende: Ist das wirklich eine Generationenfrage? 
       
       Rasha Nasr: Parteien sind ein Spiegel der Gesellschaft, und dieses
       Gedankengut findet sich sowohl in der Altbauvilla als auch in der Platte.
       Ich denke, das ist nicht unbedingt eine Generationenfrage. Ich komme aus
       der Pegida-Hauptstadt Dresden. Ich habe sowohl von Gleichaltrigen, die mich
       auch in der Partei anfeinden, als auch von älteren Genossinnen und Genossen
       Rassismus erfahren. Die Älteren tun sich oft schwer mit Interkulturalität.
       
       ## „Ich würde derzeit einen Europa-Pulli tragen“
       
       JA: Rasha Nasr (SPD), Ria Schröder (FDP)
       
       NEIN: Michel Brandt (Linke), Ricarda Lang (Grüne), Merve Gül (CDU)
       
       Ricarda Lang: Die Bundesregierung zeigt gerade, dass ein paar Europa-Pullis
       noch keine europäische Politik machen. Für mich war immer klar, dass meine
       Zukunft nicht in einem isolierten Nationalstaat, sondern in einem
       gemeinsamen Europa liegt. Ich bin überzeugte Europäerin, aber es reicht
       nicht, die Europäische Union abzufeiern. Nicht, solange sich junge Menschen
       in Spanien trotz Studienabschluss kaum ihre Miete leisten können. Oder
       Geflüchtete in Moria alleingelassen werden. Dort werden gerade europäische
       Werte mit Füßen getreten. Europa ist keine Antwort, sondern ein Auftrag,
       eine tatsächliche rechtsstaatliche, humanitäre und soziale Politik zu
       machen.
       
       Ria Schröder: Ich dachte, ehrlich gesagt, alle sagen Ja – von daher bin ich
       ein bisschen überrascht. Ich glaube, man muss bei allen Problemen, die die
       Europäische Union hat, anerkennen, was sie schon erreicht hat. Wir haben
       das Privileg, heute in Frieden zu leben. Gerade in Deutschland können wir
       auch ein bisschen dankbar sein für unseren Wohlstand. In den letzten Jahren
       wurden Dinge attackiert, die wir für selbstverständlich gehalten haben:
       durch den Brexit, die Wahl von Trump, Corona. Das wird Europa langfristig
       strapazieren, aber es ist etwas Besonderes, dass wir im Zweifel
       zusammenstehen.
       
       Michel Brandt: Diese Vermischung von EU und Europa finde ich schwierig. Mit
       einem Pullover, der diesen Kontinent repräsentiert, hätte ich wenig
       Probleme. Mit einem Pullover, der das Konstrukt der EU repräsentiert,
       wesentlich mehr. Ich sitze auch in der Parlamentarischen Versammlung des
       Europarats, in der nahezu alle Staaten Europas gemeinsam auf der Grundlage
       der Menschenrechte diskutieren. Die EU zeigt in der Coronakrise, dass sie
       eben nicht funktioniert, wenn es um Solidarität und um angebliche
       gemeinsame Werte geht. Zudem gehen wir auf den griechischen Inseln einer
       absoluten Katastrophe entgegen. Deshalb käme es mir in der aktuellen
       Situation zynisch vor, einen EU-Pullover zu tragen.
       
       Ricarda Lang: Das sehe ich anders. Es geht darum, die EU weiterzuentwickeln
       zu einer föderalen europäischen Republik, die auch ein soziales und
       demokratisches Versprechen einlöst. Man darf die nationalen Regierungen
       nicht aus der Verantwortung entlassen. Flüchtlinge aus den überfüllten
       griechischen Lagern zu evakuieren oder durch Coronabonds mit europäischer
       Solidarität auf die Coronakrise zu reagieren wird nicht in erster Linie von
       der europäischen Ebene blockiert, sondern vor allem von der deutschen
       Bundesregierung.
       
       Michel Brandt: Der Bundesregierung muss man vorwerfen, dass sie sich hinter
       der EU versteckt. Aber die EU nimmt diesen Part dankbar an. Natürlich
       müsste die Bundesregierung vorangehen, aber die momentane Solidarität
       entsteht aus den Kommunen, aus den Strukturen vor Ort und aus den Ländern.
       
       ## „Keine Krise ist so bedrohlich wie die Klimakrise“
       
       JA: Merve Gül (CDU), Ricarda Lang (Grüne)
       
       NEIN: Michel Brandt (Linke), Rasha Nasr (SPD), Ria Schröder (FDP)
       
       Merve Gül: Ja, klar. Wir können auch gern Corona überleben, aber wenn es so
       weitergeht, sehe ich da nicht großartig Chancen, wie wir die Klimakrise
       verhindern sollten. Da gibt es für mich auch gar nicht viel zu streiten.
       Klar gibt es auch andere Krisen. Aber die langfristige Frage – entweder es
       gibt den Planeten, oder es gibt ihn nicht – trifft uns alle gleichermaßen.
       
       Michel Brandt: Die Klimakrise ist eine gigantische Bedrohung, aber ich
       finde, man muss sie größer einordnen: In die Krise des Kapitalismus und der
       ständigen Wachstumsideologie, der wir uns unterworfen haben. Man muss immer
       versuchen, diesen Kontext zu benennen. Nur dann haben wir eine Chance, auch
       real etwas gegen die bevorstehende Klimakatastrophe zu tun.
       
       Merve Gül: Das Klima ist der Output von der Wirtschaft, die wir gewohnt
       sind. Trotzdem ist mir diese Kapitalismuskritik zu schwarz- weiß. Ich bin
       gegen jegliche Art von Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt und will nicht, dass
       wir den Planeten und seine Res- sourcen plündern. Aber Kapitalismuskritik
       uneingeschränkt annehmen – da gehe ich nicht mit.
       
       Ria Schröder: Der Klimawandel ist eine Menschheitsaufgabe, aber derzeit
       halte ich die Coronakrise für akuter, weil da vor unseren Augen gerade auf
       der ganzen Welt Menschen sterben, sogar in un- serem Umfeld. Wir sollten
       das auf keinen Fall gegeneinander ausspielen – aber ich glaube, wir müssen
       da nach Dringlichkeiten gehen. Das Problem ist nicht der Kapitalismus, im
       Gegenteil. Ich glaube, der Kapitalismus ist ein Instrument, mit dem wir
       auch die Klimakrise werden lösen können. Was wir brauchen, ist eine
       klassisch neoliberale Politik, die einen gesetzlichen Rahmen steckt, in dem
       wir dafür sorgen können, dass unser CO2-Ausstoß begrenzt wird. Die
       Marktwirtschaft ist dafür das beste Instrument, weil sie anerkennt, dass
       Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Menschen auf der ganzen Welt
       streben danach, zu leben wie wir. Wir müssen dafür sorgen, dass sie das
       auch können, im Einklang mit Natur und Klima. Dafür muss man nicht auf
       Luxus verzichten und anderen sagen: Wir haben hier fünfzig Jahre im Luxus
       gelebt, aber ihr dürft das nicht. Das finde ich absolut arrogant.
       
       Rasha Nasr: Ich sehe es anders. Es braucht dringend andere politische
       Mehrheiten, damit wir möglichst wegkommen von die- sem Gedanken, dass alles
       immer höher, schneller, weiter sein muss. Es sammelt sich immer mehr
       Reichtum bei immer weniger Leuten. Die Krise der sozialen Un- gerechtigkeit
       hat auch zur Klimakrise geführt. Denn die Art und Weise, wie wir
       wirtschaften, hat dazu beigetragen, dass wir unsere Umwelt kaputt gemacht
       haben – deshalb kann das nicht das Instrument sein, um das wieder
       rückgängig zu machen, zumindest nicht so, wie wir es jetzt gerade leben.
       
       Ricarda Lang: Wir müssen das Wirtschaftssystem vom Kopf auf die Füße
       stellen und den Menschen in den Mittelpunkt rücken. Wir sollten nicht
       danach wirtschaften, was wenigen Menschen Profit bringt, sondern danach,
       was gebraucht wird, allen Menschen nachhaltigen Wohlstand sichert und
       unsere natürlichen Ressourcen erhält.
       
       Ria Schröder: Aber wer entscheidet, was gebraucht wird? Wird das durch eine
       Planwirtschaft vom Staat entschieden oder, wie ich das präferiere, über
       Angebot und Nachfrage? Dann sind Bedürfnisse auf jeden Fall der Maßstab.
       Und zweitens: Die globale Marktwirtschaft hat dafür gesorgt, dass es den
       allermeisten Menschen auf der Welt jetzt besser geht. Unser Anspruch muss
       sein, dass es noch besser wird. Aber zu verleugnen, was wir in den letzten
       fünfzig Jahren global an Fortschritten gemacht haben, ist falsch.
       
       ## „Politik braucht mehr Pop“
       
       JA: Ricarda Lang (Grüne), Rasha Nasr (SPD), Ria Schröder (FDP)
       
       NEIN: Michel Brandt (Linke), Merve Gül (CDU)
       
       Rasha Nasr: Es ist nichts ätzender, als wenn ein Politiker in
       verschachtelten, angestaubten Sätzen daherredet und man am Ende nicht
       verstanden hat, was er von einem will. Viel reden, wenig sagen, das ist das
       Problem – genau deshalb braucht Politik mehr Pop. Wir brauchen eine
       verständliche Sprache, auch wenn „populär“ nicht „populistisch“ werden
       darf. Das ist ein schmaler Grat. Ich bin Franziska Giffey zum Beispiel sehr
       dankbar dafür, dass sie ihre Gesetze mal anders benannt hat: Das
       Gute-Kita-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz – das sind prägnante Begriffe,
       man versteht sofort, worum es geht. Es ist nachgewiesen, dass deshalb mehr
       Menschen mitbekommen haben, dass es diese Gesetze gibt.
       
       Michel Brandt: Politik braucht in diesen Zeiten alles, aber auf gar keinen
       Fall mehr Oberflächlichkeit. Wir müssen über Demokratisierung reden und
       darüber, wie wir mehr Menschen dazu kriegen, sich mit Politik zu
       beschäftigen. Aber ein paar Gesetze umzubenennen, um noch weniger darüber
       zu sprechen, was drinsteht, ist der falsche Weg. Menschen in die Debatte zu
       holen heißt nicht, von außen etwas anders anzustreichen, sondern
       tiefgründiger zu überlegen, was Parteien machen müssen, um attraktiver zu
       sein. Wie können Verzahnungen mit anderen gesellschaftlichen Kräften
       entstehen? Demokratie muss man lernen. Man geht nicht mit achtzehn Jahren
       von der Schule und ist deswegen Demokrat.
       
       ## „Links- und Rechtsextremismus gefährden die Gesellschaft gleichermaßen“
       
       NEIN: alle
       
       Michel Brandt: Ich finde allein den Vergleich völlig unzulässig, weil er
       auch eine gigantische Verharmlosung von Faschist:innen und
       rechtsradikalen Kräften bedeutet. Es ist einfach nicht richtig, dass es ein
       Hufeisen gibt mit zwei gefährlichen Rändern und einer goldenen Mitte. Und
       ich finde die Gleichsetzung von Parteien und Kräften, die ein
       Wirtschaftssystem infrage stellen, mit Menschen, deren Ideologie auf
       Menschenfeindlichkeit beruht, einfach überhaupt nicht legitim. Diese
       Annahme ist aber natürlich ein unglaublich bequemes Mittel gegen links. Und
       durch diese Gleichsetzung entzieht man sich im Ausschuss oder im Plenum
       jeder Debatte.
       
       Ricarda Lang: In der Benennung sind wir einen Schritt vorangekommen. In
       diesem Jahr wurde Rechtsterrorismus, auch bei dem Anschlag in Hanau,
       explizit benannt. Leider bleiben strukturelle Konsequenzen häufig aus. Das
       muss sich ändern: im Sicherheitsbereich, in der Polizei und durch ein
       härteres Vorgehen gegen rechte Strukturen. Dazu gehört auch
       antirassistische Politik. Rechtsextremismus entsteht nicht im luftleeren
       Raum, und Rassismus fängt nicht erst bei Gewalt und Terror an, sondern da,
       wo Menschen zu Fremden gemacht werden.
       
       Merve Gül: Mir sind die Maßnahmen zu schwach. Es ist ganz nett, von
       Sensibilisierung zu reden, aber das geht das Problem nicht in der gesamten
       Bandbreite an. Die einzige politische Maßnahme, die es nach Hanau für mich
       geben kann, ist eine stärkere Repräsentation von Menschen, die von
       Rassismus betroffen sind. Wenn ein Richter sagt: „Diese Tat war nicht
       rassistisch motiviert“ – was dann? Ich war für drei Monate beim
       Staatsschutz und durfte sehen, wie dort gearbeitet wird. Da fehlt manchmal
       eine gesetzliche Grundlage: Man kann so viele Hakenkreuze und jegliche Art
       von Nazischeiß zu Hause bunkern, wie man will. Das ist erst mal nicht
       strafbar, wenn man es nicht nach außen trägt. Selbiges gilt für
       Verschwörungstheorien. Selbst wenn es um rechte Strukturen in der Polizei
       geht, sogar einzelne Personen bekannt sind, wird oft nichts gemacht.
       
       taz am wochenende: Zum Beispiel? 
       
       Merve Gül: Das zeigte sich wieder bei der Festnahme der „Gruppe S.“, die
       Terroranschläge geplant haben soll. Darunter war ein Mitarbeiter der
       Polizei, der mehrfach gemeldet wurde. Das war kurz vor Hanau. Im Nachhinein
       spricht man von Versäumnissen, aber es ist doch so: An entscheidender
       Stelle sitzen nicht die Leute, die diesen Typen aus dem Dienst nehmen.
       Helfen würde eine Quote für die Behörden von jüdischen Menschen und
       Menschen mit Migrationshintergrund.
       
       ## „Quoten sind Quatsch“
       
       NEIN: alle
       
       Merve Gül: Die Quote, wie ich sie verlangen würde, beschränkt sich nicht
       nur auf ethnische Herkunft, sondern würde auch soziale Herkunft mit denken.
       Je diverser die Parlamente sind, desto weniger Blind Spots hat man. Bei
       jedem Gesetz gäbe es dann quasi eine Lobby, die sagt: So wirkt sich das
       Gesetz auf mich aus, also mach das lieber nicht, oder mach das anders.
       Derzeit gibt es sehr viele, die nicht diese Art von Lobby haben.
       
       Ria Schröder: Parteipolitik muss besser zugänglich werden. Aber
       Berufspolitik ist auch ein Handwerk – und die Vorstellung, dass
       Politikerinnen und Politiker zum Beispiel für ihre Berufsgruppe im
       Bundestag sitzen, entspricht nicht dem, was wir vom Bundestag erwarten.
       Abgeordnete sollen probieren, für alle Menschen die beste Lösung zu
       erreichen, und nicht für ihren Berufsstand lobbyieren. Es gibt andere
       Mechanismen, über die man nachdenken kann. Ich bin große Freundin der Idee
       einer dritten Kammer, in die Menschen hineingelost werden, die dann zu
       Gesetzentwürfen ihre Meinung sagen können.
       
       taz am wochenende: Also Arbeiter:innen dürfen mit draufschauen, aber
       nicht mitgestalten? 
       
       Ria Schröder: Na ja. Es geht einfach darum, dass man unterschiedliche
       Sichtweisen einbezieht. Es ist aber ein Handwerk, Reden zu halten und
       Anträge zu schreiben. Dafür braucht man keinen Uniabschluss, aber das kann
       auch nicht jeder. Es ist eine gewisse Form der Politikerverachtung, wenn
       Leute sagen, sie könnten das viel besser. Aber ja: Bei den Jungen Liberalen
       haben wir zum Teil Anträge, bei denen selbst ich Schwierigkeiten habe, sie
       zu verstehen.
       
       Ricarda Lang: Im Repräsentationsprinzip vertrete ich nicht nur Leute, die
       genau wie ich sind. Trotzdem fehlen parlamentarischer Politik bestimmte
       Perspektiven. Das merkt man auch daran, welche Themen hinten runterfallen.
       Dass sozialen Fragen wie Armut und Existenzsicherung nur geringe Bedeutung
       beigemessen wird, hängt auch damit zusammen, dass nur sehr wenige Menschen,
       die solch eine existenzielle Bedrohung erfahren haben, parlamentarische
       Politik mitgestalten. Es ist eine Aufgabe der Parteien, Menschen zu zeigen,
       was Politik mit ihnen zu tun hat.
       
       taz am wochenende: Haben Sie alle einen Hochschulabschluss? 
       
       Ricarda Lang: Ich habe nicht abgeschlossen.
       
       Michel Brandt: Ich habe kein Abitur. Und ich würde Ria in dem Punkt
       widersprechen, dass Politik ein Handwerk sei, das man nicht so leicht
       lernen könne. In der Regel werden Gesetze nicht von Parlamentariern
       geschrieben, sondern von Mitarbeitern aus den Ministerien. Ich komme von
       der Bühne. Ich habe nicht gelernt, wissenschaftliche Texte zu schreiben,
       geschweige denn daraus sachgerecht Anträge zu formulieren und juristisch zu
       bewerten. Man braucht als Politiker, der in einem Parlament sitzt, keine
       juristische Vollausbildung.
       
       Merve Gül: Da schließe ich mich an. Warum sollten ein Universitätsabschluss
       oder das Geschlecht jemanden besser dazu qualifizieren, Entscheidungen zu
       treffen oder in den Ideenwettbewerb mit anderen Menschen oder Parteien zu
       gehen? Abgeordnete sollten nicht vergessen, dass sie nicht nur von einem
       Elitehort gewählt worden sind, sondern von Menschen mit sehr
       unterschiedlichen Lebensrealitäten. Klar, nicht jede Lebensrealität kann in
       der Politik berücksichtigt werden. Umso wichtiger ist, dass Menschen mit
       verschiedenen Lebensrealitäten in Parlamenten vertreten sind.
       
       ## „Das Konzept Volkspartei hat ausgedient“
       
       JA: Michel Brandt (Linke), Ricarda Lang (Grüne), Rasha Nasr (SPD), Ria
       Schröder (FDP)
       
       NEIN: Merve Gül (CDU)
       
       Merve Gül: Vor der Coronakrise hätte ich das vielleicht anders bewertet.
       Die aktuelle Situation zeigt aber, dass das ganz gut funktioniert. Beide
       Volksparteien sind ganz gut in der Bilanz gerade dadurch, dass sie regieren
       und handlungsfähig sind.
       
       taz am wochenende: Das heißt, den Volksparteien steht die Krise gut? 
       
       Merve Gül: Ich würde nicht sagen, dass ihnen eine Krise gut steht, sondern
       dass andere Parteien auf die Krise wenige bis keine Antworten haben. Eine
       Krise mag vielleicht eine Ausnahmesituation sein, sie ist das
       Worst-Case-Szenario, aber hier performt die Groko bei aller berechtigten
       Kritik sehr gut.
       
       Rasha Nasr: Das Volksparteikonzept war passend für eine Zeit, die heute
       aber vorbei ist. In den sechziger bis achtziger Jahren hatten wir eine
       homogenere Gesellschaft. Es gab nicht so eine berufliche, kulturelle und
       religiöse Vielfalt. Wir haben heute eine viel stärker ausdifferenzierte
       Gesellschaft. Deshalb frage ich mich: Wer ist denn überhaupt noch dieses
       Volk, das da repräsentiert werden soll? Ich glaube schon, dass CDU und SPD
       noch eine breite Bevölkerungsschicht repräsentieren wollen, doch es gibt
       viele Menschen, die sich eher in Partikularinteressen wiederfinden. Vor
       sieben Jahren hatten wir im konservativen Bereich ein ganz eklatantes
       Repräsentationsdefizit, das dann Platz für die AfD gelassen hat. Insofern
       hat das Konzept Volkspartei nicht funktioniert.
       
       Merve Gül: Ich möchte nicht behaupten, die Gesellschaft sei nicht im
       Wandel. Und es sind nicht alle auf dem Topstand, gerade auch die CDU.
       Deshalb bin ich ja auch dort, um zu sagen: Wenn ihr weiter Volkspartei
       bleiben wollt, dann müsst ihr auch akzeptieren, dass die Gesellschaft im
       Wandel ist. Das ist nicht zwangsläufig negativ, auch wenn man Wähler
       verliert. Es gibt Positionen von früher, die können wir in der heutigen
       Gesellschaft so nicht vertreten. Die Gesellschaft verändert sich auch in
       Hinblick auf Moral. Die Ehe für alle und die Anerkennung des dritten
       Geschlechts sind heute zum Beispiel wesentliche Bestandteile unserer
       Realität. Für mich schließt das nicht aus, dass Volksparteien da mitgehen
       und die Bevölkerung vertreten könnten.
       
       10 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lin Hierse
   DIR Pia Stendera
       
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