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       # taz.de -- Argentinien in Corona-Krise: Mehr Dylan als Perón
       
       > Der Peronismus als Chamäleon: Argentiniens Präsident Alberto Fernández
       > managt die Coronakrise bislang souverän. Doch der Druck wird größer.
       
   IMG Bild: Argentiniens Präsident Alberto Fernandez winkt von einem Balkon
       
       Buenos Aires taz | Das hochgelobte Corona-Krisenmanagement von Alberto
       Fernández bekam zuletzt ein paar kleine Risse. In einer Rede an die Nation
       kündigte der 61-jährige Peronist, der Argentinien seit Dezember regiert,
       einige Lockerungen der seit 19. März verfügten Quarantäne an. Doch er
       ruderte schnell zurück.
       
       In der argentinischen Hauptstadt, den dicht besiedelten Teilen der Provinz
       Buenos Aires, sowie in den Metropolen Rosario und Córdoba müssen Kinder,
       Jugendliche und Alte weiterhin zu Hause bleiben. Alle anderen dürfen kurz
       einkaufen oder brauchen eine Sondergenehmigung.
       
       Doch die Unternehmer machen immer stärker Druck. Und viele
       Argentinier:innen werden nun weniger aus Angst vor dem Coronavirus
       nervöser, sondern weil ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Oder
       weil sie schlichtweg Geld verdienen müssen. Letzte Woche am Donnerstagabend
       gab es den ersten massiven Cacerolazo, minutenlanges Topf- und
       Pfannenschlagen. Zehntausende taten so ihren Unmut über die Entlassungen
       von Häftlingen wegen Covid-19 kund.
       
       Im TV fordern Moderator:innen eine Politik der harten Hand, Trolls twittern
       #WoSindDieFeministinnen oder #AllesVerfault. Und die großen
       Tageszeitungen La Nación und Clarín kritisieren nun wieder häufiger, dass
       die „radikale“ Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK) dem
       Staatschef das Leben schwermache.
       
       ## Fernández und Kirchner
       
       Die Kirchners und der jetzige Präsident Alberto Fernández – das ist ein
       Kapitel für sich. 1998 lernten sie sich schätzen. So wie unter Staatschef
       Néstor Kirchner (2003–2007) hatte Fernández auch unter Präsidentin Cristina
       Kirchner (2007–2015) zunächst die Position des Wahlkampfleiters und
       Kabinettschefs inne.
       
       Bis zum Zerwürfnis 2008, das vor allem an CFKs polarisierendem
       Regierungsstil lag. 2010 starb Néstor Kirchner, weitere acht Jahre
       verstrichen bis zur erneuten Annäherung der political animals Fernández
       (die nicht verwandt sind).
       
       Vor einem Jahr dann überraschte Cristina mit einem genialen Schachzug:
       Weil sie das Duell zur Präsidentenwahl gegen ihren verhassten konservativen
       Nachfolger Mauricio Macri hätte verlieren können, wagte die Linksperonistin
       kein Comeback. Jedenfalls nicht an vorderster Spitze. Stattdessen rief sie
       zur [1][Wahl Alberto Fernández]’ als Präsidentschaftskandidaten auf – mit
       sich selbst als Vize. Im Oktober bezwangen die vereinten Peronist:innen das
       neoliberale Unternehmerlager um Multimillionär Macri deutlich.
       
       ## „Pragmatischer Blick auf die Wirtschaft“
       
       Was es denn mit diesem Peronismus auf sich habe, wollte Bundeskanzlerin
       Angela Merkel wissen, als sie Fernández im Februar zum Abendessen in
       Deutschland empfing. „Wir sind keine Populisten, wie viele glauben“,
       erwiderte der Gast aus Südamerika. Und Kirchner betonte, wie die
       argentinischen Medien berichteten, man habe einen „pragmatischen Blick auf
       die Wirtschaft“.
       
       Ganze Bibliotheken sind über die nach Mussolini-Verehrer Juan Domingo
       Perón (1895–1974) und seiner ersten, charismatischen Frau Evita (1919–1952)
       benannte Bewegung vollgeschrieben worden. Anders als die europäische
       Sozialdemokratie erfreute sie sich auch im 21. Jahrhundert noch guter
       Gesundheit – auch ein Verdienst des Kirchner-Fernández-Trios. Ein
       [2][Gefühlszustand sei der Peronismus], hört man zuweilen. Die Partei
       spielt oft kaum eine Rolle, Sozialpolitik für die Armen jedoch schon.
       
       Der Peronismus [3][versteht sich oft „nacional-popular“], nicht
       unproblematisch. Neben einer begeisterungsfähigen Massenbasis und
       kompetenten Berufspolitiker:innen finden sich auch extrem unappetitliche
       Gewerkschafter und Provinzfürsten in den Reihen der Peronisten. Wie etwa
       auch der greise Senator und ultraliberale Ex-Präsident Carlos Menem
       (1989–1999). Fernández hingegen ist eher ein Sozialdemokrat alten Typs,
       der schon vor Corona auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaats setzte.
       
       ## 68 und die Folgen
       
       Néstor und Cristina Kirchner waren argentinische 68er, die vom hiesigen
       Rolling Stone schon mal in John-und-Yoko-Pose dargestellt wurden. Auf die
       Depression 2001/02 und eine Phase breiter Selbstorganisierung von unten
       folgte ab 2003 der kirchneristische Aufbruch, wirtschaftlich wie politisch.
       Die Menschenrechte rückten nach vorne, Hunderte Mörder und Folterer aus der
       Militärdiktatur (1976–1983) kamen hinter Gitter.
       
       Es war die argentinische Version des verblichenen südamerikanischen
       Linksrucks in den Nullerjahren. Mit Lula und Hugo Chávez verhinderte man
       die Freihandelszone von Alaska bis Feuerland und setzte auf Integration mit
       Kuba und Distanz zu den USA.
       
       Die alten Freundschaften sind noch da. Nach dem Wahlsieg besuchte Alberto
       Fernández Brasiliens Lula im Gefängnis, [4][Evo Morales aus Bolivien] gab
       er Asyl. Auf Regierungsebene allerdings ist es einsam geworden. Da gibt es
       heute nur noch Andrés Manuel López Obrador in Mexiko.
       
       Bob Dylan, Joan Baez, Walt Whitman und argentinische Rockmusik hätten ihn
       mehr beeinflusst als Juan Domingo Perón, bekannte Fernández. Sein Collie
       heißt Dylan, und für Twitter und Instagram zupft er schon mal ein paar
       Akkorde, bevor er seinen Fans eine fürsorgliche Botschaft mitgibt. Patti
       Smith brachte ihm im November ein Ständchen dar und versuchte ihn zur
       Ökologie zu bekehren. Echte Alternativen zu Fracking, Bergbau oder
       Sojaexport werden von den Peronisten zwar noch nicht diskutiert, doch
       immerhin gibt es wieder ein Umweltministerium.
       
       ## Vier Fünftel des Volks hinter Fernández
       
       Laut Umfragen hat der gelernte Jurist, Verwaltungsbeamte und
       Rechtsprofessor derzeit fast vier Fünftel der Bevölkerung hinter sich. Im
       notorisch gespalteten Argentinien ist dies sensationell. Und ein Ergebnis
       seiner raschen Reaktion auf Corona. Die Ausgangssperre wurde in Argentinien
       präventiv verhängt. Das Ergebnis: [5][anders als in Brasilien] kaum Tote
       und sehr wenige Infizierte.
       
       Fernández repräsentiere einen „mütterlichen Staat“, sagt die Feministin
       Rita Segato. Und er spreche in der Krise „eine einfache Sprache, die
       verbindet“. Obwohl der Präsident mitunter paternalistisch klingen mag, weiß
       Fernández dank seiner klaren Haltung für die Legalisierung der Abtreibung
       die meisten Feministinnen hinter sich. Und in der LGBTQ-Community punktet
       er mit seinem bisexuellen Sohn.
       
       Doch „der nicht praktizierende Katholik“ hat auch zu Papst Franziskus einen
       guten Draht und lässt sich auch von Armenpriestern bei Sozialmaßnahmen
       beraten.
       
       ## „Onkel Alberto“
       
       „Onkel Alberto“ rede allen nach dem Mund, kritisiert denn auch der
       Kolumnist Alejandro Borensztein. Er teile die Stellen im Staatsapparat
       unter den peronistischen Strömungen auf. Am Ende regiere Mittelmaß. Und die
       Skepsis des Präsidenten gegenüber dem [6][Freihandelsabkommen EU-Mercosur]
       wird nicht nur von Bankern oder Agrarunternehmern kritisch gesehen.
       
       In der Coronakrise stehen zudem neue Verhandlungen zu Umschuldungen mit den
       privaten Gläubigern an. Sie werden wohl Einbußen hinnehmen müssen. Auch in
       Argentinien droht eine tiefe Rezession, bei schon jetzt 16 Millionen Armen
       birgt sie eine enorme soziale Sprengkraft. Ein Gesetzentwurf zur
       Besteuerung der Superreichen ist noch lange nicht durch den Kongress.
       
       Alberto Fernández wird bei alldem die Geschicklichkeit eines Seiltänzers
       benötigen, um in den kommenden Monaten nicht abzustürzen.
       
       7 May 2020
       
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