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       # taz.de -- Die Journalistin Ida B. Wells: Ein Licht der Wahrheit
       
       > Ida B. Wells schrieb im 19. Jahrhundert über rassistische Gewalt in den
       > USA. Damals wurde sie bedroht. Heute wird sie verehrt und endlich
       > ausgezeichnet.
       
   IMG Bild: Michelle Duster und ihre Urgroßmutter Ida B. Wells
       
       Die Journalistin Ida B. Wells lebte zu einer Zeit, in der investigative
       Recherche – für eine Frau und erst recht für eine Schwarze Frau – nicht
       bad-ass war, sondern lebensgefährlich. Denn die Gewalt, über die sie ab den
       1880er Jahren schrieb und gegen die sie kämpfte, war die [1][vor allem in
       den Südstaaten der USA weit verbreitete Lynchjustiz.] Afroamerikaner*innen
       (aber auch Angehörige [2][anderer Minderheiten wie etwa italienische
       Einwanderer]) wurden von weißen Mobs und selbsternannten Bürgerwehren wegen
       tatsächlich oder vermeintlich begangener Verbrechen öffentlich zu Tode
       gequält – gehängt, verbrannt oder verstümmelt. [3][Wells machte die
       Schicksale der Opfer öffentlich] und enthüllte in ihren Recherchen, wie oft
       die grausame Selbstjustiz unter einem Vorwand verübt wurde, etwa die
       angebliche Vergewaltigung einer weißen Frau.
       
       Der Beweggrund hinter den Lynchmorden aber war stets derselbe: Rassismus.
       Dagegen schrieb Wells ihr Leben lang an und wurde zur berühmtesten
       Schwarzen Frau ihrer Zeit, [4][wie die New York Times viele Jahrzehnte
       später schrieb]. 89 Jahre nach ihrem Tod hat Ida B. Wells in der
       vergangenen Woche für [5][ihre „ausgezeichnete und mutige
       Berichterstattung“ einen Pulitzerpreis] bekommen, die wohl begehrteste
       Auszeichnung für Journalist*innen weltweit.
       
       ## Lehrerin und Journalistin
       
       Ida Bell Wells wird 1862 in Holly Springs, Mississippi geboren. Für die
       Familie bedeutet die Abschaffung der Sklaverei durch die
       Emanzipationsproklamation 1863 nicht nur Freiheit, sondern einen Weg aus
       der Armut. Die Eltern investieren das Geld, das sie erübrigen können, in
       Bildung. Sie sterben 1878 an einer Gelbfieberepidemie, wodurch Ida zur
       Ernährerin ihrer fünf noch lebenden Geschwister wird und als Lehrerin
       arbeitet.
       
       1882 zieht sie mit zwei Geschwistern zu einer Tante nach Memphis und
       schreibt unter [6][dem Pseudonym „Iola“ über Ungerechtigkeiten im
       Bildungswesen]. Denn die formelle Abschaffung der Sklaverei bedeutete
       keinesfalls Gleichberechtigung. Immer mehr Gesetze wurden erlassen, die
       eine getrennte Nutzung öffentlicher Einrichtungen für Schwarze und weiße
       Menschen vorschrieb. Diese Zeit ist als Jim-Crow-Ära bekannt, benannt nach
       einer rassistischen Karikatur. Das juristische Prinzip des separate but
       equal – getrennt, aber gleichberechtigt – sollte Afroamerikaner*innen noch
       bis in die 1960er Jahre verhöhnen und diskriminieren.
       
       Im Jahr 1883 hat Ida B. Wells, mehr ein halbes Jahrhundert vor Rosa Parks,
       ein Schlüsselerlebnis: Auf dem Weg zu ihrer Arbeit an einer Schule in
       Woodstock wird sie aus einem Zug gewiesen, weil sie im Abteil für weiße
       Frauen gesessen hatte. Daraufhin verklagt Wells die Eisenbahngesellschaft,
       bekommt zunächst eine Entschädigung zugesprochen, verliert schließlich aber
       in letzter Instanz. Sie veröffentlicht einen Artikel über diese Erfahrung,
       durch den sie bekannt wird. Nachdem sie wegen kritischer Artikel zum
       segregierten Schulwesen 1891 ihren Job als Lehrerin verliert, widmet sie
       sich dann ganz dem Journalismus, den sie immer auch als Aktivismus
       versteht: [7][„Der Weg zur Wiedergutmachung von Unrecht besteht darin, das
       Licht der Wahrheit auf dieses Unrecht zu richten.“]
       
       Im Jahr 1892 werden ein Freund von Wells und seine beiden Geschäftspartner,
       die einen Lebensmittelladen in Konkurrenz zu dem Geschäft eines Weißen
       eröffnet hatten, gelyncht. Fortan schreibt Wells über rassistische Gewalt,
       benennt Täter und Verantwortliche, fordert Gerechtigkeit. Denn längst ist
       das Phänomen ein strukturelles. „Der neueste Höhepunkt des Kriegs gegen
       schwarzen Fortschritt ist die Verfestigung der Lynchjustiz in
       Strafgerichten überall im Süden“, [8][schreibt Wells im Mai 1894.]
       „Richter, Geschworene, Sheriffs und Gefängniswärter sind allesamt weiße
       Männer.“ Anstatt ordentlicher Gerichtsverfahren herrscht Selbstjustiz bis
       zur Hinrichtung.
       
       ## Noch immer ein strukturelles Problem
       
       Die 1,50 Meter große Wells lässt sich trotz Morddrohungen nicht an ihrer
       Arbeit hindern, reist bis nach Großbritannien, um über ihre Recherchen zu
       berichten. Das Gebäude der Zeitung The Memphis Free Speech, deren
       Anteilseignerin sie seit 1889 ist, wird von einem weißen Mob gestürmt und
       zerstört. Als es für sie in den Südstaaten zu gefährlich wird, zieht sie
       nach Chicago. Sie heiratet den Zeitungsgründer Ferdinand L. Barnett und
       bekommt mit ihm vier Kinder. Bis zu ihrem Tod 1931 engagiert sie sich nicht
       nur als Journalistin, sondern auch als Bürgerrechtlerin.
       
       In den vergangenen Jahren ist Ida B. Wells im US-amerikanischen
       Journalismus zunehmend bekannt geworden. Dass Stimmen von BPoC weniger
       Gehör finden als weiße, ist noch immer ein strukturelles Problem. Umso
       bedeutender die diesjährige Preisverleihung: Zwei weitere wichtige
       Pulitzerpreise gingen in diesem Jahr an Schwarze Autor*innen.
       
       Der Schriftsteller [9][Colson Whitehead bekam den Belletristikpreis für
       seinen Roman „The Nickel Boys“], der vom Leid eines 16-Jährigen im
       segregierten Florida der 1960er Jahre erzählt. Die Erziehungsanstalt, in
       der der Junge im Roman gefoltert wird, gab es wirklich – vor wenigen Jahren
       fand man bei Grabungen auf dem Gelände Dutzende Leichen, teils schwer
       misshandelt.
       
       Und die Journalistin des New York Times Magazine, Nikole Hannah-Jones,
       gewann den Kommentarpreis für einen Essay mit dem Titel „Die
       Gründungsideale unserer Demokratie waren falsch, als sie geschrieben
       wurden. Schwarze Amerikaner haben dafür gekämpft, sie wahr zu machen.“ Der
       Text lenkte den Blick darauf, dass das „Land der Freien“ – wie es in der
       amerikanischen Nationalhymne heißt – längst nicht für alle frei war,
       sondern auf dem Prinzip der Unfreiheit gründete.
       
       Hannah-Jones hat nicht nur [10][das „1619 Project“ ins Leben gerufen], mit
       dem das NYT Mag 2019 an die Ankunft der ersten versklavten Afrikaner*innen
       in den USA erinnerte. Sie ist auch Mitbegründerin der Ida B. Wells Society
       For Investigative Reporting, die es sich zur Aufgabe gemacht hat,
       Journalist*innen of Color zu fördern. Noch [11][immer sind 76 Prozent der
       Journalist*innen in US-Redaktionen weiß.] Women of Color haben es schwer,
       ihren Job ohne Diskriminierung ausüben zu können – besonders unter Donald
       Trump. Der Fernsehkorrespondentin Yamiche Alcindor etwa wurde [12][in einer
       Pressekonferenz des Weißen Hau]ses das Mikro weggenommen, während
       [13][Trump zu ihr sagte, sie solle „nett sein“ und nicht „bedrohlich“].
       
       ## Bedrückend aktuell
       
       Diese drei Preise senden auch ein Signal in Zeiten, in denen immer wieder
       klar wird, wie präsent die rassistische Gewalt noch heute ist. Als die
       Entscheidung der Pulitzerjury bekanntgegeben wurde, drang noch ein anderes
       Thema an die Öffentlichkeit: d[14][er Mord an Ahmaud Arbery.] Ein
       25-jähriger Mann aus Georgia, der beim Joggen von zwei weißen Männern
       verfolgt und auf offener Straße erschossen wurde. Angeblich, weil er einem
       gesuchten Einbrecher ähnlich sah. Ein moderner Fall von Lynchjustiz, wenn
       man so will – zumindest eines von vielen Beispielen von Gewalt gegen
       Schwarze Menschen in den USA und die oft nur zögerliche Strafverfolgung der
       Täter.
       
       Im Februar dieses Jahres erst verabschiedete das US-Repräsentantenhaus
       einen Gesetzentwurf, der Lynchjustiz als Hasskriminalität einstuft und auch
       bundesweit unter Strafe stellt – 120 Jahre nachdem diese Bemühungen
       erstmals zur Sprache kamen.
       
       Dem Entwurf zufolge wurden in den Jahren [15][1892 bis 1968 in den USA
       insgesamt 4.742 Lynchmorde verzeichnet]. 3.445 der Opfer waren demnach
       Schwarz. Nikole Hannah-Jones schrieb nach der Bekanntgabe der
       Preisträger*innen auf Twitter, die New York Times, für die sie selbst heute
       arbeite, [16][habe Ida B. Wells einst eine „verleumderische und bösartige
       Mulattin“ genannt] und ihr fehlende Objektivität vorgeworfen. Solche
       Ressentiments gibt es noch immer. Insofern ist der Pulitzerpreis für Ida B.
       Wells – auch wenn er ihr nicht die Würdigung geben kann, die sie zu
       Lebzeiten verdient hätte – eine Mahnung an die Medienöffentlichkeit, diese
       Frau und ihren Kampf nicht zu vergessen.
       
       11 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.smithsonianmag.com/smart-news/map-shows-over-a-century-of-documented-lynchings-in-united-states-180961877/
   DIR [2] https://www.nytimes.com/interactive/2019/10/12/opinion/columbus-day-italian-american-racism.html
   DIR [3] https://www.gutenberg.org/files/14975/14975-h/14975-h.htm
   DIR [4] https://www.nytimes.com/interactive/2018/obituaries/overlooked-ida-b-wells.html?mtrref=undefined&gwh=59D537B4FFDAB807FA2325AC16E998BA&gwt=pay&assetType=REGIWALL
   DIR [5] https://www.pulitzer.org/winners/ida-b-wells
   DIR [6] https://www.lib.uchicago.edu/ead/pdf/ibwells-0008-008-03.pdf
   DIR [7] https://www.nypl.org/blog/2018/07/16/way-right-wrongs-celebrating-legacy-ida-b-wells
   DIR [8] https://www.lib.uchicago.edu/ead/pdf/ibwells-0008-008-04.pdf
   DIR [9] /Colson-Whiteheads-Die-Nickel-Boys/!5605816
   DIR [10] https://www.nytimes.com/interactive/2019/08/14/magazine/1619-america-slavery.html?%3Fmtrref=undefined&gwh=B826BAE43531EF41A1E4462883E10BB9&gwt=pay&assetType=REGIWALL
   DIR [11] https://www.pewresearch.org/fact-tank/2020/04/28/10-charts-about-americas-newsrooms/
   DIR [12] https://www.nbcnews.com/news/nbcblk/weloveyamiche-trends-twitter-after-trump-berates-black-female-reporter-n1173481
   DIR [13] https://www.youtube.com/watch?v=_Q7vxFSnILY
   DIR [14] /Rassismus-in-den-USA/!5683573
   DIR [15] https://docs.house.gov/billsthisweek/20200224/BILLS-116hr35-SUSv2.pdf
   DIR [16] https://twitter.com/nhannahjones/status/1257724889596903425
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johanna Roth
       
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