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       # taz.de -- Nachruf auf Little Richard: Der Pfirsich aus Georgia
       
       > Die Rock-’n’-Roll-Legende Little Richard ist tot. Mit seinem Urschrei
       > „Awop Bop A Loo Bop Alop Bam Boom“ prägte er das Genre.
       
   IMG Bild: Der selbsternannte „Architekt des Rock ‚n‘ Roll“ im Jahre 1966
       
       „I got a girl / named Sue / she knows just what to do / I got a girl /
       named Daisy / she almost drives me crazy.“ Sue und Daisy wissen, was Sache
       ist.
       
       Denn in „Tutti Frutti“ steckte alles drin: Die Anzüglichkeiten des „Dirty
       Blues“, dem musikalischen Sextalk; das hämmernde Uptempo-Piano; die
       vibrierende Stimme eines „Cry Singers“, wie Charles Keil es 1966 in „Urban
       Blues“ beschrieb. Geschrien wurde in diesem Fall „Awop Bop A Loo Bop Alop
       Bam Boom“, die Zeile, welche die Vision auf den Punkt bringt. Es war der
       Urschrei des Rock ’n’ Roll.
       
       Eigentlich hat Richard Wanye Penniman alias Little Richard mit jener
       Nonsenslyrik einen Trommelwirbel verbalisiert, mit dem sein Song gleich das
       richtige Entree bekommen sollte. Statt dem auf „Tutti Frutti“ folgende „aw
       rooty“, das man als „alright“ interpretieren kann, sang er „good booty“,
       was sich angeblich auf den Hintern eines Mannes bezieht. Die Zeile, so will
       es die musikhistorische Mär, ging ursprünglich weiter mit ebensolchen
       Anspielungen: „You can grease it / make it easy.“
       
       Little Richard bekam bei der Aufnahme von „Tutti Frutti“ im September 1955
       jedoch Ärger mit dem Produzenten. Eine Songtexterin musste die
       doppeldeutigen Lyrics entschärfen, und einer der ersten amtlichen
       Rock-’n’-Roll-Hits war geboren. Er machte Little Richard, den 23-jährigen
       Musiker aus einer religiösen, armen Großfamilie in Georgia, der bereits
       seit vier Jahren erfolglos als Musiker herumkrepelte, zu einem seiner
       frühen Superstars – ein paar Monate nach [1][Chuck Berrys] „Maybellene“.
       
       ## Konservatismus trifft auf Nachtclub
       
       Little Richards Kampf mit der Schicklichkeit, sein Ringen um die eigene,
       durch die konservativen Vorstellungen der Zeit geprägte Moral zog sich
       durch sein gesamtes Leben, und steckte schon im Elternhaus: Sein Vater war
       Diakon und verkaufte nebenbei schwarzgebrannten Schnaps im eigenen
       Nachtclub.
       
       Unterschiedlich lange Beine beschieden dem jungen Richard einen
       eigenwilligen Gang. Man habe seine Bewegungen „weibisch“ genannt, erzählte
       er später, aber auch, dass er immer schon schwul gewesen sei. Seine laute,
       lebendige Stimme wurde, wie bei vielen anderen, durch das Gospelsingen
       geschult, für das Uptempo-Klavier im [2][Boogie-Style referierte er Fats
       Domino], mit dem er live jedoch nicht zu vergleichen war.
       
       Denn Little Richards Bühnenperformances waren Dragshows, schillernde, wilde
       Rockorgien, zu denen zunehmend auch das weiße, Rock-’n’-Roll-begeisterte
       Publikum kam – in der rassistischen, segregierten USA ein Unding. Um nicht
       in Verdacht zu geraten, es auf die weißen Mädchen abgesehen zu haben, habe
       er sich stark geschminkt, und sich auffällige, glitzernde Garderobe
       zugelegt, so erzählt es Little Richard 2003 seinem Biografen.
       
       Angeblich vorgetäuschte Homosexualität als Schutz vor Rassismus – die ihn
       mitnichten vor den Avancen seiner Fans bewahrte: Angeblich war Richards,
       der mit 1,77 Meter keineswegs „little“ ist, auch der erste Star, dem
       Zuschauerinnen ihre Höschen auf die Bühne warfen.
       
       ## Vom „schmutzigen“ Rock ’n’ Roll zur geistlichen Musik
       
       Nach „Tutti Frutti“ und „Long Tall Sally“, dem Umzug in ein schickes
       Viertel in Los Angeles, Auftritten in Rock’-n’-Roll-Filmen wie „Don’t knock
       the Rock“ (1956) neben Bill Haley, und seinem ersten, 1957 herausgekommenen
       erfolgreichen Solo-Album, hatte der Künstler auf einer Australien-Tour
       gemeinsam mit Eddie Cochran und Gene Vincent gleich mehrere Visionen:
       Während eines Fluges seien ihm Engel erschienen, außerdem habe er nach
       einem Konzert einen roten Feuerball am Himmel gesehen.
       
       Der stellte sich zwar als der am 4. Oktober gezündete erste
       Sputnik-Satellit heraus. Doch Richards las all dies als göttliche Zeichen,
       und beschloss, sich vom „schmutzigen“ Rock ’n’ Roll ab-, und als
       wiedergeborener Christ der geistlichen Musik zuzuwenden.
       
       Vielleicht hatte sein Entschluss auch monetäre Hintergründe – sein zweites,
       1958 erschienenes Album blieb hinter den Erwartungen zurück. Weil die
       Gospelnummern ihn jedoch ebenfalls weder auf geistiger noch auf
       finanzieller Ebene erretteten, ging es in den 60ern doch weiter mit Rock
       ’n’ Roll – einmal sogar mit den noch unbekannten Beatles im Vorprogramm.
       
       Richards spielte sich durch die 60er und 70er, versank mehrfach im Alkohol-
       und Drogentaumel, schwankte zwischen Religiosität und Exzess und wurde 1962
       in Kalifornien verhaftet, weil er Männern beim Urinieren zugesehen hatte –
       der Voyeurismus spielte in seinen Beziehungen zu Frauen und Männern stets
       eine Rolle.
       
       ## „Ich bin der getönte Liberace!“
       
       Genau wie sein wunderbarer queerer Humor. 1970 sitzt er in einem schreiend
       grasgrünen Fransen-Jumpsuit und mit Signature-Beehive beim
       Late-Night-Talkshowhost Dick Cavett. „Nennen deine Freunde dich eigentlich
       Little Dick?“ frotzelt Cavett gutmütig. „Nein, die nennen mich den schönen
       Little Richard“, kontert Richard. „Ich bin nämlich der bestaussehende Mann
       im Showbusiness. Ich bin nicht eingebildet, ich bin überzeugt. Ich bin der
       getönte [3][Liberace]! Der Pfirsich aus Georgia!“
       
       Der Pfirsich aus Georgia wurde 1986 in die Rock ’n’ Roll Hall of Fame
       aufgenommen, schickte jedoch wegen eines Autounfalls nur eine
       Videobotschaft. In den 80er und 90er Jahren spielte er bei Promihochzeiten
       und ab und an Konzerte, später häuften sich gesundheitliche Probleme – der
       agile Künstler, der keine Show überstand, ohne das Bein im Glitzerschuh
       aufs Klavier zu schwingen, saß zuletzt im Rollstuhl.
       
       Er starb am Samstag im Alter von 87 Jahren in Nashville, wo er im Haus
       eines Bruders – Little Richard hatte sechs Brüder und fünf Schwestern –
       lebte. Sein Sohn, den er während einer fünfjährigen Hetero-Ehe Anfang der
       60er adoptiert hatte, war bei ihm. Der Rock ’n’ Roll verliert mit ihm
       einen seiner glamourösesten Recken.
       
       10 May 2020
       
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       ## AUTOREN
       
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