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       # taz.de -- Moralisches Konsumieren: Ein fragiles Gebilde
       
       > Ich kaufe wegen eines verstorbenen rumänischen Erntehelfers dieses Jahr
       > keinen Spargel. Ist das absurd?
       
   IMG Bild: Weil wir es so wollen: Spargelstecher bei der Arbeit
       
       Vor einigen Tagen las ich in der Zeit einen Artikel über einen [1][an
       Covid-19 verstorbenen rumänischen Erntehelfer]. Ich hatte schon vorher
       davon gehört und hatte auch die Bilder der auf dem Flughafen dicht gedrängt
       wartenden Menschen gesehen. Nun ist es vielleicht nicht so unvorhersehbar
       gewesen, dass auch ein rumänischer Erntehelfer erkrankt, das Virus macht
       vor keiner Nationalität halt. Die Bedingungen, unter denen die Erntehelfer
       hier leben und arbeiten, das wurde bereits vielfach besprochen, sind in
       dieser Hinsicht nicht besonders günstig. Die Bedingungen sind aber auch in
       anderer Hinsicht nicht schön.
       
       All das ist nicht neu. All das ist schon immer so. Ich habe einige Freunde
       und Bekannte, die jetzt keinen Spargel mehr kaufen wollen, und auch ich
       habe in diesem Jahr noch keinen gekauft. Ich weiß nicht, ob es mit dem
       Bericht über den verstorbenen Erntehelfer zusammenhängt. Ich fühle ein
       schlechtes Gewissen.
       
       Da ich selbst eine ganze Saison Spargel gestochen habe, weiß ich, was für
       eine schwere Arbeit das ist. Es geht auf den Rücken. Aber die Arbeit auf
       dem Feld ist immer schwer und geht auch fast immer auf den Rücken. „Und was
       ist mit Erdbeeren?“, fragt meine Tochter. Tja, was ist mit Erdbeeren?
       Werden die auch von Saisonarbeitern geerntet? Was ist mit der Ernte an
       sich, Getreide zum Beispiel? Ich habe in der DDR ein Jahr in der
       Landwirtschaft gearbeitet, und da hatten wir in der Ernte immer Erntehelfer
       aus Polen.
       
       Ohne Erntehelfer ging es nicht, noch nie. Meine Urgroßeltern
       väterlicherseits waren Schnitter. Sie zogen übers Land und gaben meine
       Großmutter mit elf Jahren in die Hände eines Bauern, als eine Art
       Leibeigene. So war das damals. Und wie ist es heute? In der Landwirtschaft
       ist die Arbeit nun mal nicht gleichmäßig über das Jahr verteilt und die
       Bauern sind auf die Erntehelfer angewiesen. Wer sind diese Erntehelfer?
       Warum kommen sie? Wie gehen wir mit ihnen um? Und was bedeutet das alles
       für mich? Soll ich keinen Spargel mehr essen, keine Erdbeeren, kein
       Getreide, keinen Wein mehr trinken?
       
       Als das Problem mit den fehlenden Erntehelfern gerade akut war, fragte ich
       meine Schwester, die bei einem großen Bio-Label arbeitet, wie die Umstände
       dort sind. „Unsere Bauern warten sehr auf die Arbeiter“, sagte sie, „sie
       arbeiten immer mit denselben, sie kennen sie gut, seit vielen Jahren“. Das
       habe ich auch selbst damals auf der LPG erfahren. Man kannte sich gut. Es
       kamen meist dieselben. Die Gewohnheit ist was Schönes.
       
       Aber die Fragen bleiben. „Was kriegen die?“, fragte ich meine Schwester.
       Sie konnte es mir nicht sagen. Bekommen die Erntehelfer, die meinen
       Bio-Spargel ernten genauso wenig Geld wie die, die bei konventionellen
       Bauern arbeiten? Und was sind das für Menschen? Es ist offensichtlich, es
       arbeiten eigentlich kaum Dänen oder Engländerinnen auf unseren Feldern, es
       sind eher Rumänen oder Polinnen. Gäbe es Dänen, die für unseren
       Mindestlohn, von denen ihnen noch etwas für Unterkunft und Kost abgezogen
       wird, auf unseren Feldern Spargel stechen würden?
       
       Die Schnitter waren Wanderarbeiter, zu Fuß zogen sie dorthin, wo sie
       gebraucht wurden, sie wurden auch als „Vagabunden“ angesehen, „fahrendes
       Volk“. Ihr Ruf war nicht gut. Über ihre Bezahlung ist mir nichts bekannt.
       Heute werden die Erntehelfer mit dem Flugzeug eingeflogen. Aber sind sie
       uns mehr wert? In meiner Kindheit gab es Spargel einmal im Jahr, wenn wir
       zu meiner Oma fuhren, die stach ihn in ihrem Garten. Gekauften konnten sich
       unsere Eltern nicht leisten. In den letzten Jahren aß ich Spargel in der
       Saison wenigstens einmal pro Woche.
       
       Ich weiß, die Erntehelfer wollen zu diesen Bedingungen ernten, weil es für
       sie einfach keine anderen gibt, die Bauern wollen wettbewerbsfähig bleiben,
       weil es sie sonst nicht mehr gibt, und wir wollen Spargel essen, weil wir
       es halt wollen. Dieses ganze Gebilde aus Arbeit und Markt ist so fragil,
       und ein moralisches Handeln so kompliziert, da ist es vielleicht absurd,
       dass ich wegen des verstorbenen rumänischen Arbeiters dieses Jahr keinen
       Spargel kaufe.
       
       14 May 2020
       
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