URI: 
       # taz.de -- Häusliche Gewalt und Corona: Eine doppelte Bedrohung
       
       > Während des Lockdowns können Frauen nicht heimlich telefonieren oder ihre
       > Sachen packen. Frauenhäuser rechnen mit steigenden Anfragen.
       
   IMG Bild: Frauenhäuser schützen bei häuslicher Gewalt: Wegen der Corona-Pandemie gab es Aufnahmestopps
       
       Dass Sandra Bergers* Mann sie schlug, begann lange vor Corona. Die
       44-Jährige, die als Minijobberin im Verkauf arbeitet, und ihr Mann, ein
       Maurer, sind seit fast 20 Jahren ein Paar, sie haben zwei gemeinsame Söhne.
       Nach und nach veränderte sich die Beziehung. Immer wieder gab es Streit und
       Schläge, auch die Kinder hatten oft Angst. Doch Anzeigen wegen
       Körperverletzung bei der Polizei zog Berger immer wieder zurück.
       
       Als nun Mitte März der Lockdown kam, wurde ihr Mann auf Kurzarbeit gesetzt,
       sie selbst war ebenfalls mehr zu Hause, die Anspannung nahm zu. Vor zwei
       Wochen drohte Bergers Mann, sie anzugreifen. Sie zog die Notbremse und rief
       die Polizei, die sie und ihre beiden Kinder schließlich ins Frauen- und
       Kinderschutzhaus Meppen im Emsland brachte.
       
       Die 44-Jährige ist eine von vier Frauen, die während der Coronapandemie in
       dem Frauenhaus aufgenommen wurden. „Irgendwann hätten sie alle Hilfe bei
       uns gesucht“, sagt die Leiterin des Hauses, Cordula Glanemann vom
       Sozialdienst katholischer Frauen, die von dem Fall berichtet. „Aber durch
       die Situation, dass Täter und Opfer auf engem Raum die ganze Zeit zusammen
       sind, wurde das in allen Fällen schnell dramatisch.“
       
       Vier Aufnahmen seit Mitte März – das hätte auch in Zeiten vor Corona
       passieren können, sagt Glanemann. Wie andere Mitarbeiterinnen von
       Frauenhäusern in Deutschland, mit denen die taz gesprochen hat, berichtet
       zwar auch sie, dass die Belastung für die Häuser durch die Pandemie extrem
       gestiegen und der Alltag deutlich komplizierter geworden sei. Zudem
       vermuten alle Gesprächspartnerinnen, dass häusliche Gewalt durch die
       beengte Situation im Lockdown und die vermehrte Arbeitslosigkeit zunehme.
       Doch eine Zunahme der Aufnahmeanfragen, davon gehen alle aus, werde sich
       erst einige Zeit nach den Lockerungen tatsächlich bemerkbar machen.
       
       „Wir glauben, dass das mit Unsicherheit zu tun hat“, sagt Glanemann. Frauen
       würden befürchten, dass das, was in einem fremden Umfeld auf sie zukomme,
       noch schwieriger sei als die Situation zu Hause. Weder sei klar, wie hoch
       die Infektionsgefahr vor Ort sei – Frauen und Kinder teilen sich in den
       Häusern in den meisten Fällen Küche und Wohnzimmer, alles ist auf ein Leben
       in der Gruppe ausgelegt. Eine ein- oder zweiwöchige Quarantäne als
       Vorsichtsmaßnahme beim Einzug, auf der einige Häuser bestehen, komme wegen
       der Isolation von der Gruppe und der erzwungenen Untätigkeit für manche
       außerdem nicht infrage. Und schließlich sei unklar, wie die Zeit nach dem
       Aufenthalt im Frauenhaus geplant werden kann. „Die Öffnungszeiten der Ämter
       sind gerade sehr eingeschränkt, sodass Termine langen Vorlauf brauchen“,
       sagte Glanemann. „Das verunsichert die Frauen. Und es ist noch viel
       schwerer als sowieso schon, Wohnungen für sie zu finden.“
       
       ## Einfach anrufen geht nicht
       
       Ähnliches berichtet die Leiterin des Frauenhauses im fränkischen Schwabach,
       Andrea Hopperdietzel. Die Nachfrage nach Plätzen sei bislang konstant. Das
       liege unter anderem daran, dass die Frauen „während des Lockdowns nichts
       unbemerkt zusammenpacken und ihre Flucht nicht vorbereiten konnten“, sagt
       Hopperdietzel. Dies gelte umso mehr, wenn Kinder betreut werden müssen.
       „Wir merken, dass es für viele Frauen sogar schwieriger ist, zu
       telefonieren. Sie sprechen leiser, weil jemand im Nebenzimmer ist.“
       
       Alexandra Gutmann von der Heilbronner Mitternachtsmission sagt: „Die Fälle,
       in denen Frauen sich schon seit Jahren immer wieder bei uns melden, weil
       sie Gewalt ausgesetzt sind, es aber nicht schaffen, sich zu trennen,
       vermissen wir gerade.“ Sie könne dann aber nicht einfach selbst zum Hörer
       greifen und anrufen, um die Frauen zu fragen, wie es ihnen geht – der
       Partner sei ja in vielen Fällen zu Hause. Es drohe die Gefahr, mit solchen
       Nachfragen unbeabsichtigte Dynamiken in Gang zu setzen. „Wenn die Zahlen
       also trotzdem konstant sind, sowohl in unserer Beratungsstelle als auch im
       Schutzhaus, bedeutet das eine enorme Steigerung der Fälle“, so Gutmanns
       Schlussfolgerung.
       
       Schon ohne Corona sei ihr Haus chronisch überbelegt. „Aber wir haben einen
       ethisch-moralischen Grundsatz: Wenn eine misshandelte Frau bei uns vor der
       Tür steht, lehnen wir sie nicht ab.“ Wenn das Haus in coronafreien Zeiten
       völlig überfüllt war, hätten die Frau dann eben auch mal eine Nacht auf dem
       Flur oder in Gemeinschaftsräumen geschlafen, um am nächsten Tag in ein
       anderes Haus weitervermittelt zu werden.
       
       Dies sei nun kaum mehr möglich. Zum einen, weil Hygieneregeln und Abstände
       auch zwischen den Bewohner- und Betreuerinnen eingehalten werden sollen.
       Zum anderen, weil die Möglichkeiten der Vermittlung in andere Häuser durch
       Corona „enorm eingeschränkt sind“, wie Gutmann sagt. Viele Häuser hätten
       wegen der Pandemie einen Aufnahmestopp erlassen – entweder weil sie selbst
       betroffen seien oder auch weil sie die aktuellen Bewohnerinnen und deren
       Kinder schützen wollten. Der Grundsatz der Mitternachtsmission, niemanden
       abzuweisen, „hat uns deshalb fast bis zum Bersten herausgefordert“.
       
       Zehn Frauen samt deren Kindern hat Gutmann seit Mitte März aufgenommen. Um
       Abstands- und Hygieneregeln einhalten zu können, hat das Haus Schulden
       gemacht – und „in einem Affenzahn zusätzliche Räume in der weiteren
       Umgebung angemietet“. Aus Schutzgründen wollte sie sich zur Art der
       Unterkünfte nicht äußern. Das habe allerdings zur Folge, dass die
       Mitarbeiterinnen dezentral arbeiten und teilweise selbst an verschiedenen
       Standorten übernachten müssen, um sich an die Sicherheitsvorkehrungen gegen
       gewalttätige Partner halten zu können. Eine fünfstellige Summe von Ausgaben
       ist derzeit deshalb nicht gedeckt.
       
       ## Fast 15.000 Plätze fehlen
       
       „Wir hoffen inständig, dass Bund, Länder und Kommunen uns damit nicht
       alleinlassen“, sagt Gutmann. „Aber was hätte ich denn machen sollen?“,
       fragt sie. „Ich kann die Frauen und Kinder doch nicht schutzlos auf der
       Straße stehen lassen.“ Corona bedeute für von Gewalt betroffene Frauen
       „eine doppelte Bedrohung: durch das Virus, und durch den prügelnden
       Partner“. Nun werde durch die Pandemie der grundsätzliche Missstand
       offenbar, dass Deutschland viel zu wenige Plätze in Frauenhäusern hat –
       fast 15.000 Plätze fehlen, legt man die Vorgaben im Übereinkommen des
       Europarats gegen Gewalt an Frauen zugrunde, die Istanbulkonvention.
       
       Auch Andrea Hopperdietzel aus Schwabach sagt: „Wenn Lebensgefahr besteht,
       nehmen wir die Frau auf.“ Ansonsten hat sie bisher versucht, in die
       Gemeinschaftsunterkunft im Frauenhaus „nicht so viel Bewegung“ zu bringen
       und den angestrebten Grundsatz „Wer schlägt, der geht“ in Zusammenarbeit
       mit Polizei, Ämtern und Gerichten noch konsequenter als sonst umzusetzen.
       
       „Ich habe mehrere Aufgaben, die ich erfüllen muss“, sagt Hopperdietzel:
       „Ich muss die Frau schützen, die einziehen will. Ich muss die Frauen
       schützen, die schon bei uns wohnen und deren Immunsystem oft durch
       jahrelange Erfahrung von Gewalt und Erniedrigung geschwächt ist. Und ich
       muss die Mitarbeiterinnen und Ehrenamtlichen schützen.“ Die Ehrenamtlichen
       sind in Schwabach vor allem Seniorinnen und zählen deshalb zur
       Risikogruppe. Während der vergangenen Wochen haben sie in Absprache mit dem
       Haus ihre Arbeit niedergelegt. „Jetzt wollen wir das langsam wieder
       hochfahren“, sagt Hopperdietzel.
       
       Die übrigen Schutzmaßnahmen, die ihr Haus wegen Corona getroffen hat,
       werden wohl erst einmal beibehalten: zwei Wochen Quarantäne bei
       Neuaufnahme. Zwei Teams, um im Infektionsfall nicht gänzlich ohne
       Mitarbeiterinnen dazustehen. Homeoffice, wo möglich. Das Tragen von Masken
       und die Hygienemaßnahmen mit Bildern erklären, um die Regeln den
       Bewohnerinnen näherzubringen, die kein oder nur wenig Deutsch können.
       Vorräte inklusive Notproviant anlegen, um für eine eventuelles Quarantäne
       des gesamten Hauses gerüstet zu sein. „Der Betrieb muss ja in jedem Fall
       weiterlaufen“, sagt Hopperdietzel.
       
       Einen Coronaverdachtsfall gab es auch schon. Die Bewohnerin bekam ein
       eigenes Zimmer, das sie nicht mehr verlassen durfte und in dem sie auch
       kochte, und konnte ein eigenes Bad benutzen – was bedeutete, dass sich drei
       andere Frauen samt deren Kindern ein Bad teilen mussten. Nach zehn Tagen
       war klar, dass sich der Verdacht nicht erhärtet hatte.
       
       Die Herausforderung in Zeiten von Corona, sagt Hopperdietzel, sei noch viel
       mehr als sonst, Sorgen und Ängste der Frauen nicht überhandnehmen zu
       lassen. Im Flur steht deshalb seit ein paar Wochen jeden Morgen eine kleine
       Überraschung, Blumen zum Beispiel, mit dem Hinweis: „Die blühen auch für
       dich.“ Kürzlich bekam das Haus Gasluftballons gespendet, für jedes Kind
       einen. Manche Mitarbeiterinnen drehen kleine Videoclips, um den Ausklang
       des Tages mit gemeinsamem virtuellem Singen zu gestalten, auch wenn das in
       der realen Gemeinschaft nicht möglich ist. „Wir versuchen, die Stimmung
       hoch zu halten“, sagt Hopperdietzel, „für alle.“
       
       *Name geändert
       
       17 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patricia Hecht
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR häusliche Gewalt
   DIR Frauenhäuser
   DIR Frauenhaus
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR China
   DIR Frauenquote
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Familie
   DIR häusliche Gewalt
   DIR Frauenhäuser
   DIR Schwerpunkt Utopie nach Corona
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Gewalt gegen Frauen in der Pandemie: „Bis er ausgerastet ist“
       
       In vielen Fällen eskaliert häusliche Gewalt während der Coronapandemie,
       berichten drei Leiterinnen von Frauenhäusern.
       
   DIR Datenbank zu häuslicher Gewalt in China: Schutz oder Pranger?
       
       Im chinesischen Yiwu können sich Frauen bald in einer Datenbank
       informieren, ob ihr künftiger Ehemann wegen häuslicher Gewalt verurteilt
       wurde.
       
   DIR Frauen in Führungspositionen: Ohne Druck geht nichts
       
       Nur eine Quotenregelung sorgt wirklich dafür, dass mehr Frauen in der
       Topetage landen, sagt ein neuer Bericht des Familienministeriums.
       
   DIR Studie zu Auswirkungen der Coronakrise: Viel Gewalt während des Lockdown
       
       Zehn Prozent der Kinder in Corona-Quarantäne wurden geschlagen, sieben
       Prozent der Frauen erlebten Gewalt durch Männer. Auch emotionale Gewalt war
       häufig.
       
   DIR Studie zu Corona-Alltag von Familien: Alles anders
       
       Eine neue Studie zeigt, wie Familien mit der Coronakrise umgehen.
       Insbesondere für Frauen bedeutet der Pandemie-Alltag noch mehr Stress als
       zuvor.
       
   DIR Corona und Anstieg häuslicher Gewalt: Schattenpandemie
       
       Der gefährlichste Ort für Frauen ist das eigene Zuhause. Das
       Familienministerium schickt derweil Grüße zum Muttertag.
       
   DIR Frauenhäuser in Brandenburg: Für die Frauen da sein
       
       Generationswechsel in vielen Brandenburger Frauenhäusern: Mitarbeiterinnen
       der ersten Stunde hören auf. Nicht überall finden sich Nachfolgerinnen.
       
   DIR Expertin zu Frauen in der Coronakrise: „An die Bruchstellen ran – jetzt“
       
       Frauen treffe weltweit eine „Schattenpandemie“, sagt Karin Nordmeyer von UN
       Women Deutschland. Sie seien in der Coronakrise dramatisch benachteiligt.