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       # taz.de -- Neustart der Bundesliga: Lob der Unvernunft
       
       > Man kann zugleich für und gegen den Bundesliganeustart sein. Der Mensch
       > lebt ja schließlich nicht im Kopf allein.
       
   IMG Bild: Da war die Welt noch in Ordnung: ungeduldige Dortmund-Fans am 1. Spieltag im August 2019
       
       Die Bundesliga hat als eine der letzten Ligen den Betrieb eingestellt und
       fängt als eine der ersten wieder an. Neven Subotic, der wachen Verstand und
       klug dosierte Moral auf unprätentiöse Art verbindet, findet das zu Recht
       kritikwürdig. Die Liga und die Klubbosse haben mit es mit geschicktem
       Lobbyismus geschafft, alle Einwände aus dem Weg zu räumen. Was Spieler wie
       Subotic dazu sagen, wurde am Rande zur Kenntnis genommen.
       
       [1][Es gibt viele Gründe, warum man die Saison beenden sollte.] Spieler
       können sich trotz Hygiene und Tests anstecken. Das ist nicht schön und
       vielleicht auch ungünstig für fairen Wettbewerb. Ist denn ausgeschlossen,
       dass – sagen wir mal – Paderborn kurz vor Saisonende und Abstieg
       feststellen muss, dass ein paar Kicker positiv sind? Und dann? Und wie
       sollen Kinder begreifen, dass sie auf dem Schulhof dem Regime des Social
       Distancing gehorchen müssen, aber in den Stadien erwachsene Männer im Knäul
       aufeinanderliegen, sich umarmen, foulen, schubsen, und rangeln? Dieser
       Neustart zeigt, dass Kicker eine seltsame Mixtur von Adel und Sklaven sind,
       ausgestattet mit dem Vorrecht der Berufsausübung und des körperlichen
       Kontakts, das gleichzeitig Zwang ist.
       
       Es gab in jeder zweiten Zeitung, Talksshow und Website ein Pro und Contra
       zum Bundesligastart. Bei dieser Diskussion ist es so wie beim Fußball
       überhaupt: Es ist eine basisdemokratische Angelegenheit, bei der es nur
       Experten gibt. Die Befürworter sind oft kein schöner Anblick. Es sind
       Männer, die aussehen, als würden sie 100.000-Euro-Autos fahren, fragwürdige
       Parteien wählen und Schlimmeres. Es sind Männer, die in Fußballtalkshows
       Sätze sagen wie: Machen wir uns nichts vor. Fußball ist ein Geschäft. Es
       geht ums Geld.
       
       Nein, möchte man da rufen: Es geht nicht um Geld. Geld ist banal, nur
       Mittel zum Zweck. Der Zweck ist Schönheit. Fußball ist schön. Fußball
       verbindet uns mit unserer Kindheit. Fußball ist ein Medium, das jenseits
       von Sprache, Ethnie und Klasse Kontakte stiftet. Die Bundesliga ist kein
       Wirtschaftsunternehmen, ihr Holzköpfe. Sie ist ein Tempel. Ein Ensemble von
       Ritualen und Vertrautheiten, die die Welt bewohnbar erscheinen lässt und
       rhythmisiert wie die Jahreszeiten. Eine Saison einfach in der Mitte zu
       beenden, wäre wie ein Jahr ohne Herbst.
       
       ## Unvermeidliche Spannung
       
       Das klingt etwas unvernünftig und ist es auch. Es gibt zwischen Vernunft
       und Fußball ja eine gewisse Spannung. So wenig rational es ist, in einer
       Kirche ein höheres Wesen zu verehren, so wenig ist es rational, Fan zu
       sein.
       
       Gegen die Fortsetzung der Liga spricht, dass die Stadien leer bleiben
       müssen. Massen sind in der Regel tumb. Heiner Müllers Satz, dass zehn
       Deutsche dümmer sind als fünf Deutsche, stimmt. Aber nicht im Stadion.
       [2][Die Fans bilden – nicht immer, aber oft – ein intelligentes, situativ
       begabtes Kollektiv.]
       
       Bei einem Spiel des BVB ist mal jemand gestorben. Die Fans haben aufgehört,
       ihre Elf anzufeuern, und nach Abpfiff „You never walk alone“ gesungen. Zu
       solchen moralischen Gesten sind Massen nur selten fähig. Das Wort
       Geisterspiel trifft es daher: Das Vitale fehlt. Die Fans im Stadion
       spiegeln das TV-Zuschauer-Ich, das am liebsten Teil dieses Kollektives
       wäre. Sky wird nun Jubel aus der Retorte einblenden. Das ist die Art von
       Reparatur, die den Schaden noch vergrößert.
       
       Ich bin beim Ligastart beides: dafür und dagegen. Je nach Körperregion. Der
       Kopf sagt: Der Bundesligastart ist unvernünftig. Geisterspiele sind
       armselig. Dass die Liga wieder anfängt, zeigt wie grässlich, geldfixiert
       und hohl das Profigeschäft ist. Im Rest des Körpers fühlt sich das anders
       an. Wer will in einer Welt leben, in der nur Vernunft regiert?
       
       Ich bin echt gegen den Bundesligastart. Bis Samstagnachmittag, 15.30 Uhr.
       
       15 May 2020
       
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