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       # taz.de -- Corona-Äußerungen von Boris Palmer: Der Tübinger Geisterfahrer
       
       > Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat die Grünen mit Äußerungen
       > über Alte und Kranke erneut blamiert. Diesmal könnte es Konsequenzen
       > haben.
       
   IMG Bild: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer
       
       Berlin taz | Bei den Grünen wächst die Empörung über Boris Palmer. Nachdem
       zahlreiche Parteimitglieder in einem offenen Brief den Parteiausschluss
       gefordert haben, geht nun die Grünen-Spitze deutlich auf Distanz zu dem
       Tübinger Oberbürgermeister. Die Partei werde Palmer bei einer erneuten
       Kandidatur und bei weiteren politischen Tätigkeiten nicht mehr
       unterstützen, sagte Annalena Baerbock am Montag in Berlin nach einer
       Videokonferenz des Parteivorstands.
       
       Bereits am Sonntagabend hatte ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck klare Kante
       gezeigt. Er habe gehofft, Palmer sehe ein, dass seine Äußerung über die
       Lebensaussichten älterer Menschen falsch und herzlos gewesen sei. „Aber
       nachdem er heute nachgelegt hat, muss ich sagen, dass meine Geduld wirklich
       erschöpft ist“, sagte Habeck in der ARD-Sendung „Anne Will“. „Das schadet
       inzwischen der Debatte weit über das parteischädigende Verhalten hinaus.“
       
       Auslöser der aktuellen Aufregung um Palmer ist ein Satz, mit dem er vor
       rund einer Woche im Sat.1-Frühstücksfernsehen [1][die derzeitigen
       Corona-Maßnahmen kritisiert hatte:] „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir
       retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr
       sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“
       
       Inzwischen hat sich der 47-jährige Kommunalpolitiker zwar für seine
       Wortwahl entschuldigt. Aber an seiner grundsätzlichen Haltung hat sich
       nichts geändert. Sein zentrales Ziel ist die weitgehende Aufhebung der
       coronabedingten Einschränkungen des gesellschaftlichen und vor allem des
       wirtschaftlichen Lebens. Darauf richtet er seine gesamte Argumentation aus,
       wozu dann auch weiterhin „Berechnungen“ gehören, wie viele Lebensjahre
       [2][Corona-tote] theoretisch überhaupt verlieren. Solche Rechnungen legte
       er am Sonntag auf Facebook vor, was abends wiederum Robert Habeck zu seiner
       deutlichen Kritik an Palmer bewegt haben dürfte.
       
       ## „Propaganda gegen Schwächere“ wird Palmer vorgeworfen
       
       In einem von dem früheren Berliner Bundestagsabgeordneten Özcan Mutlu
       initiierten [3][offenen Brief] werfen mehr als einhundert Parteimitglieder
       dem Tübinger Bürgermeister vor, er vertrete menschenfeindliche und
       menschenverachtende Vorstellungen – und zwar zum wiederholten Male.
       
       „Auch seine wiederholten Eskapaden und parteischädigenden Äußerungen in den
       Themen Migration und Integration, seine Sicht auf Geflüchtete oder die
       Verharmlosung von Rassismus“ zeigten deutlich, dass die grüne Partei
       „längst nicht mehr seine politische Heimat ist“. Mit seinen Äußerungen
       spalte Palmer die Gesellschaft, simplifiziere gesellschaftliche Probleme
       und betreibe „immer wieder Propaganda gegen Schwächere“.
       
       Dabei sei es „unerheblich, dass er sich nach seinen parteischädigenden und
       teilweise menschenfeindlichen Äußerungen, immer wieder als missverstanden
       verteidigt oder sich zum Schein entschuldigt, wenn der Druck zu groß wird“.
       So wie das jetzt auch im aktuellen Fall wieder geschehen sei.
       
       „Fakt ist, er ist unbelehrbar und genießt anscheinend den Medienrummel, den
       er mit seinem parteischädigenden Handeln immer wieder provoziert“, heißt es
       in dem Schreiben, das unter anderem die Bundestagsabgeordnete Canan Bayram,
       die Europaabgeordnete Katrin Langensiepen und die Thüringer
       Landtagsfraktionsvorsitzende Astrid Rothe-Beinlich unterschrieben haben
       
       ## Tübinger Grüne ziehen Konsequenzen
       
       Adressiert ist der offene Brief an den baden-württembergischen Landes- und
       an den Tübinger Kreisvorstand der Grünen. Sie sollten alle politischen und
       rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, „um diesen politischen Geisterfahrer
       alsbald aufzuhalten“. Die Unterzeichner:innen halten ein
       Parteiordnungsverfahren oder auch -ausschlussverfahren für notwendig.
       
       Auf die Frage, ob er eine solche Forderung unterstütze, antwortete der
       Grünen-Vorsitzende Habeck am Sonntag vorsichtig: „Wir werden uns mit
       solchen Fragen beschäftigen.“ Das hat einen einfachen Grund: Nicht nur bei
       anderen Parteien – siehe den immer noch nicht endgültig entschiedenen Fall
       des SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin – ist der Ausschluss eines Mitglieds kein
       einfaches Unterfangen. Auch bei den Grünen könnte ein solches Verfahren
       lange dauern – mit höchst ungewissen Ausgang.
       
       Zudem sind die Möglichkeiten des grünen Bundesvorstands, gegen Palmer
       vorzugehen, äußerst beschränkt. Die Einleitung eines Ausschlussverfahren
       gehört nicht dazu. Das sieht die Bundessatzung nicht vor. Laut der Satzung
       der baden-württembergischen Grünen kann ein Parteiausschluss von der
       zuständigen Kreisschiedskommission „nur auf Antrag des Vorstandes oder des
       höchsten Organs einer Gliederung, der das Mitglied angehört, ausgesprochen
       werden“. Das sind im Fall Palmer die Grünen in Tübingen.
       
       Doch es ist höchst zweifelhaft, ob der Grünen-Vorstand in der
       Universitätsstadt zu einem solchen Wagnis bereit wäre. Immerhin amtiert
       Palmer seit 2007 hier als Oberbürgermeister, 2014 wurde er mit 61,7 Prozent
       der Stimmen im ersten Wahlgang wiedergewählt. Bislang beließen es die
       Tübinger Grünen denn auch lieber dabei, sich in schöner Regelmäßigkeit von
       seinen fragwürdigen Äußerungen zu distanzieren – so wie auch diesmal
       wieder. Das war’s dann aber auch stets gewesen. Bis zum nächsten
       Empörungssturm.
       
       Nur mit Unterstützung bei der kommenden OB-Wahl kann Palmer wohl auch bei
       den Tübinger Grünen nicht mehr rechnen. „Ich bin ein Freund von Boris
       Palmer, aber es kann nicht sein, dass er 2022 noch einmal für die Grünen
       antritt“, sagte Grünen-Fraktionschef im Tübinger Gemeinderat, Christoph
       Joachim, am Montag dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Er werde
       empfehlen, Palmer nicht mehr zu nominieren. Ob Palmer dann ohne grüne
       Unterstützung kandidiere, sei seine Entscheidung, fügte Joachim hinzu.
       
       4 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Boris-Palmer-und-die-Coronakrise/!5682102
   DIR [2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746/
   DIR [3] https://www.tagesspiegel.de/downloads/25796086/1/offener-brief-palmer010520.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pascal Beucker
       
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