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       # taz.de -- Verfassungsrichter zu Anleihekäufen: Karlsruhe nimmt EZB an die Leine
       
       > Das Bundesverfassungsgericht stellt fest: Die EZB überschreitet ihre
       > Kompetenzen. Die Entscheidung ist ein Affront gegenüber EU-Institutionen.
       
   IMG Bild: Historisches Urteil im letzten Moment: Die Amtszeit von Andreas Voßkuhle endet am 6.Mai 2020
       
       Karlsruhe taz | Der billionenschwere Ankauf von Staatsanleihen durch die
       Europäische Zentralbank (EZB) ist verfassungswidrig. Das stellte der Zweite
       Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Präsident Andreas Voßkuhle fest.
       Die EZB habe versäumt, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu prüfen.
       Damit brandmarkte das Bundesverfassungsgericht erstmals einen EU-Rechtsakt
       als kompetenzwidrig.
       
       Von März 2015 bis November 2019 kaufte das Eurosystem, zu dem die
       Zentralbanken aller Euro-Staaten gehören, Staatsanleihen im Wert von
       bislang rund 2,1 Billionen Euro auf. Mit dem sogenannten PSPP-Programm
       (Public Sector Purchase Programme) verfolgte die EZB geldpolitische Ziele.
       Bei den Banken sollte Liquidität freigesetzt und damit Kreditvergabe und
       Wirtschaft angekurbelt werden. So sollte Deflation verhindert werden, die
       wiederum zu Kaufzurückhaltung führen könne.
       
       Dagegen hatten Euro-Kritiker wie Bernd Lucke (Ex-AfD) und Peter Gauweiler
       (CSU) bereits 2015 beim Bundesverfassungsgericht geklagt. Mit dem Programm
       betreibe die EZB unerlaubte Staatsfinanzierung und Wirtschaftspolitik. Denn
       der Aufkauf von Staatsanleihen ermögliche den stark verschuldeten
       EU-Staaten eine zinsgünstige Refinanzierung.
       
       Zunächst machten sich die Verfassungsrichter diese Vorwürfe zu eigen 2017
       sahen sie „gewichtige Anhaltspunkte“, dass die EZB ihr Mandat überschritten
       hat. Sie legten deshalb dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vor,
       ob auch er die EU-Verträge verletzt sieht.
       
       ## Vorwurf: Verhältnismäßigkeit nicht geprüft
       
       Laut EuGH verstößt das PSPP-Programm jedoch nicht gegen EU-Recht. Der
       Gerichtshof erklärte im Dezember 2018, dass der Ankauf von Staatsanleihen
       nicht bereits deshalb unzulässig sei, weil man damit auch
       wirtschaftspolitische Ziele verfolgen könne.
       
       [1][Dennoch gab das Bundesverfassungsgericht nun den Verfassungsbeschwerden
       von Lucke und Gauweiler statt.] Die EZB habe weder geprüft noch
       festgestellt, dass der Anleiheankauf verhältnismäßig ist. Dabei habe der
       Ankauf von Staatsanleihen schwerwiegende Folgen. Staaten könnten sich damit
       leichter finanzieren und unterlassen deshalb möglicherweise notwendige
       Wirtschaftsreformen. Auch Unternehmen kämen leichter an Kredite und gingen
       deshalb vielleicht nicht bankrott, obwohl dies marktwirtschaftlich
       erforderlich wäre. Sparer bekämen kaum noch Zinsen für ihre Guthaben,
       während die Preise für Immobilien und damit auch die Mieten stark
       anstiegen.
       
       All dies hätte die EZB mit ihren geldpolitischen Zielen abwägen müssen, so
       die Verfassungsrichter. Weil sie dies unterließ, habe sie ihr Mandat
       überschritten. Anders als früher wurde der EZB also nicht vorgeworfen, dass
       sie zuviel Wirtschaftspolitik betreibe, sondern dass sie zu wenig an
       wirtschaftspolitische Folgen gedacht habe.
       
       ## Keine grundsätzliche Kritik am EuGH
       
       Eigentlich ist der EuGH dafür zuständig, zu prüfen, ob EU-Organe sich im
       Rahmen ihrer Kompetenzen bewegen. Grundsätzlich, so betonte Voßkuhle, wolle
       das Verfassungsgericht dessen Einschätzungen akzeptieren. Nur wenn der EuGH
       willkürlich entscheidet oder anerkannte methodische Grundsätze ignoriert,
       sieht sich Karlsruhe nicht an EuGH-Urteile gebunden. Das soll aber die
       „absolute Ausnahme“ bleiben, so Voßkuhle.
       
       Im konkreten Fall wird dem EuGH vorgeworfen, dass er die wirtschaftlichen
       Auswirkungen des EZB-Programms „völlig ausgeblendet“ hat. Das sei keine
       ordentliche Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das EuGH-Urteil müsse deshalb
       ignoriert werden.
       
       Dagegen folgte das Verfassungsgericht dem EuGH in einem anderen Punkt. Es
       liege wohl kein offensichtlicher Verstoß gegen das Verbot der
       Staatsfinanzierung durch die EZB vor. Zum einen könnten Zentralbanken
       maximal ein Drittel der Staatsanleihen aufkaufen. Zum anderen sehe das
       PSPP-Programm vor, dass die Zentralbanken nur Anleihen ihres eigenen
       Staates erwerben. Auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des
       Bundestags sei gewahrt, so die Karlsruher Richter, weil keine
       „Risikoteilung“ zwischen den EU-Staaten vorgesehen ist.
       
       ## Überschaubare Folgen
       
       Die Entscheidung ist zwar ein großer Affront der deutschen
       Verfassungsrichter gegenüber den EU-Institutionen. Die Folgen halten sich
       zunächst aber in Grenzen. Die Verfassungsrichter erwarten, dass die EZB die
       Verhältnismäßigkeitsprüfung in den kommenden drei Monaten nachholt. Solange
       kann das Ankaufprogramm, das im November 2019 auf niedrigem Niveau neu
       startete, fortgeführt werden.
       
       Die EZB dürfte über die neue Pflicht, wirtschaftspolitischer zu denken,
       nicht traurig sein. Denn in die Abwägung werden künftig nicht nur die
       Interessen deutscher Sparer, sondern auch die Lage spanischer Arbeitsloser
       und französischer Rentner einfließen.
       
       [2][Auf das geplante neue Ankauf-Programm der EZB im Rahmen der
       Corona-Krise (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP)] geht das
       Urteil, das bereits Ende 2019 im Kern fertig gestellt war, nicht ein.
       Allerdings könnte aus Karlsruher Sicht auch hier eine
       Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich sein. Dass die Verfassungsrichter
       das Verbot von Risikoteilungen betonen, dürfte für die diskutierten
       Corona-Bonds (siehe Text unten) ein schlechtes Signal sein. Möglicherweise
       würden die Karlsruher Richter auch hier gegen einschreiten.
       
       Den größten Nutzen aus dem Karlsruher Urteil können vermutlich
       Problemstaaten wie Polen und Ungarn ziehen, die sich nun gerne auf das
       Bundesverfassungsgericht berufen werden, wenn sie Brüsseler Vorgaben
       ignorieren.
       
       5 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200505_2bvr085915.html
   DIR [2] /Verschuldung-in-der-Corona-Krise/!5671066
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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