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       # taz.de -- Machtkämpfe in Coronazeiten: Spaniens dreifache Krise
       
       > In Spanien versuchen PP und VOX, die Bevölkerung zu spalten. Die beiden
       > linken Regierungspartner wissen hingegen, dass sie sich gegenseitig
       > brauchen.
       
   IMG Bild: Kommunikation mit der Opposition: Sanchez spricht mit Pablo Casado von der konservativen Volkspartei
       
       Madrid | taz | Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez ist erst etwas mehr
       als 100 Tage im Amt und schon zieht sich über seiner
       sozialistisch-linksalternativen Koalitionsregierung das perfekte Gewitter
       zusammen. Die durch den [1][Coronavirus verursachte sanitäre Krise] hat
       eine schwere wirtschaftlichen und sozialen Krise zur Folge. Als wäre das
       nicht genug, provoziert die konservative Partido Popular (PP) ausgerechnet
       jetzt, wo Neuinfektionen und die Zahl der täglich zu beklagenden Todesfälle
       dank der strikten Auflagen für die Bevölkerung zurückgehen, eine politische
       Krise. Bisher hat die PP den Alarmzustand mitgetragen. Am Mittwoch
       enthielten sich die konservativen Abgeordneten erstmals der Stimme.
       
       Die Verlängerung um weitere zwei Wochen, mit deren Hilfe eine landesweite
       geregelte Öffnung gewährleistet werden soll, kam nur knapp zustande. Die
       Abstimmung zeugt von der fragile Stabilität im viertwichtigsten EU-Land.
       Während überall in der Europäischen Union Opposition und Regierung
       [2][angesichts der Pandemie zusammenrücken], verabschiedet sich PP-Chef
       Pablo Casado vollständig vom verantwortungsbewussten Handeln. Er riskiert
       gar eine unkontrollierte Öffnung und damit [3][das gesundheitspolitische
       Chaos], wenn seine Partei nur Kapital daraus schlagen kann.
       
       Die Weigerung, für eine Verlängerung des Alarmzustands zu stimmen ist neu,
       der harte Oppositonskurs ist es nicht. Casado hat von Anfang an versucht,
       aus der Coronakrise politischen Nutzen zu ziehen, erhebt etwa schwere
       Vorwürfe gegen die Regierung, auch wenn diese oft völlig unhaltbar sind.
       
       Während Sánchez den politischen Streit zu Gunsten der Einheit aller
       politischen und sozialen Kräfte meidet, nutzt PP zusammen mit der
       rechtsextremen VOX die sozialen Netzwerke, um die Stimmung im Land zu
       vergiften. Hunderttausende ferngesteuerter Konten konnte etwa Twitter
       ausmachen. Sie verbreiten Fakenachrichten, die das angebliche Versagen der
       Regierung belegen sollen.
       
       Erst war [4][der Opposition der Alarmzustand zu lasch und kam zu spät] -
       nur um jetzt die gleichen Maßnahmen als überzogen und autoritär zu
       verurteilen. Es werden Massenlegalisierungen von Immigranten erfunden,
       Korruptionsfälle konstruiert, wo es keine gibt, sowie nicht zu erfüllende
       Forderung, wie etwa die nach Schnelltests für jeden der 47 Millionen
       Spanier unters Volk gebracht. Auf Facebook, YouTube, Instagram sieht es
       nicht anders aus. VOX fordert ganz offen eine „Regierung der nationalen
       Einheit“ unter Führung der Armee. Casado, dessen PP in den Regionen Madrid,
       Murcia und Andalusien dank VOX regiert, schweigt sich dazu aus.
       
       Der PP-Chef verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen sieht er in der
       Coronakrise die Chance, sich an Sánchez, der die Konservativen 2018 per
       Misstrauensvotum auf die Oppositionsbank verwies, zu rächen. Gleichzeitig
       will er von der Verantwortung seiner PP an der sanitären Tragödie ablenken.
       Waren es doch die Sparmaßnahmen und Privatisierungen der Konservativen, die
       Spaniens Gesundheitssystem so stark geschwächt haben, dass es am Höhepunkt
       der Covid-19-Krise kurz davor stand, völlig zusammenzubrechen. Das gleiche
       gilt für die Altersheime, in denen mehr als die Hälfte der tödlich
       verlaufenen Covid-19-Fälle zu bedauern sind.
       
       Madrid, die am stärksten betroffene Region, wird seit Jahrzehnten von der
       PP regiert. Ausgerechnet hier, in der reichsten Autonomen Gemeinschaft
       Spaniens, fehlte es an Material zum Schutz der Angestellten, an
       Krankenhausplätzen, Beatmungsgeräten und an Betten auf Intensivstationen,
       wie sonst nirgends. Wäre die Zentralregierung unter Sánchez nicht per
       Alarmzustand eingeschritten, hätte sich die Lage sicher noch weiter
       verschärft.
       
       PP und VOX versuchen die Bevölkerung – die Abend für Abend auf den Balkonen
       dem Personal im öffentlichen Gesundheitssystem Beifall klatscht und damit
       zugleich die Sparpolitik und Privatisierungen im Gesundheitssystem
       kritisiert – zu spalten. Und sie wollen ein Umdenken in der Sozialpolitik
       verhindern. Denn erstmals soll in Spanien eine Krise nicht auf dem Rücken
       der einfachen Leute ausgetragen werden. Solange der Alarmzustand gilt
       dürfen die Unternehmen niemanden entlassen. Um dies zu erreichen wurden
       spezielle Kurzarbeitsprogramme und Hilfen für Selbstständige eingeführt.
       Die Banken werden verpflichtet, in bestimmten Fällen, zinslose Kredite zu
       vergeben. [5][Ein Mindesteinkommen] ist in Vorbereitung.
       
       „Kommunismus“, „Zustände wie in Venezuela“ seien das, wettern PP und VOX.
       Angesichts dieser neuen Sozialpolitik, die deutlich die Handschrift der
       linksalternativen Unidas Podemos und deren Vizeregierungschef Pablo
       Iglesias trägt. Der Rechten ist klar, dass all das nur durch höhere Steuern
       für Besserverdienende zu finanzieren ist. Genau das wollen sie verhindern.
       Beide Parteien sind – in unterschiedlicher Form – das Sprachrohr des
       reichen Spaniens, das von den ständigen Steuersenkungen der letzten
       Jahrzehnte profitierten.
       
       Sánchez und Iglesias wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind, wollen
       sie das Gewitter überstehen. Die Krise schweißt die sozialistischen und
       linksalternativen Minister, die sich anfänglich argwöhnisch beäugten,
       zusammen. Zwar laufen der Linkskoalition derzeit auch einige Verbündete
       weg, wie etwa die Republikanischen Linken Kataloniens, die aus
       innerkatalanischem wahlpolitischem Kalkül gegen die Verlängerung des
       Alarmzustandes stimmte, doch ist die Regierung – so absurd das auch klingen
       mag – in ihrer Schwäche ungemein stark. Denn Casado ist keine wirkliche
       Alternative. Der PP-Chef hat auf die politische Mitte verzichtet, in dem er
       sich VOX zugewendet hat und den Rechtsradikalen die Inhalte streitig machen
       will.
       
       Ein Scheitern von Sánchez nach nur wenigen Monaten im Amt birgt die Gefahr
       einer konservativ-rechtsextremen Regierung. Die Schuld an einem solchen
       Desaster will und kann sich von denen, die die Koalition Sánchez-Iglesias
       im Januar ins Amt wählten, niemand leisten.
       
       8 May 2020
       
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