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       # taz.de -- Debatte um Historiker Achille Mbembe: Die Logik des Verdachts
       
       > Die aktuelle Debatte über den Denker Achille Mbembe zeigt, wie sehr die
       > Anti-BDS-Beschlüsse der Kunst- und Meinungsfreiheit in Deutschland
       > schaden.
       
   IMG Bild: BDS-Aktivistin in Berlin
       
       Um die aktuelle [1][Debatte über den Denker Achille Mbembe] zu verstehen,
       muss man an deren Anfang zurückgehen. Mbembe sollte bei der mittlerweile
       abgesagten Ruhrtriennale eine Rede halten. Doch dann forderte ein
       FDP-Hinterbänkler aus Nordrhein-Westfalen, ihn auszuladen. Sein Vorwurf:
       Mbembe unterstütze die [2][BDS-Bewegung]. Das Kürzel BDS steht für
       „Boykott, Investitionsabzug, Sanktionen“ und ist eine Kampagne, die Israel
       unter Druck setzen will, die Besetzung zu beenden und Palästinensern mehr
       Rechte zu gewähren. Zu ihren Unterstützern zählen Prominente wie Desmond
       Tutu, Naomi Klein, Roger Waters und Judith Butler. Kritiker halten sie
       dagegen für „antisemitisch“. Die israelische Regierung hat BDS sogar zum
       Staatsfeind Nummer eins erklärt und drängt ihre Verbündeten, es ihr
       gleichzutun – mit wachsendem Erfolg.
       
       In Deutschland haben zuletzt der Bundestag und die
       Hochschulrektorenkonferenz die BDS-Bewegung geächtet,. In
       Nordrhein-Westfalen gibt es seit 2018 einen Parlamentsbeschluss,
       BDS-Unterstützern keine Bühne zu geben. Städte wie Frankfurt am Main und
       München haben Raumverbote verhängt. Berlins SPD-Innensenator Andreas Geisel
       möchte BDS sogar vom Verfassungsschutz beobachten lassen. Das ist ziemlich
       viel Aufwand für eine Bewegung, die in Deutschland kaum ein paar Dutzend
       Köpfe zählt. Zum Vergleich: Die rechtsradikale Pegida-Bewegung oder
       Hassportale wie PI-News wurden nie vom Verfassungsschutz beobachtet.
       
       Für die Diskurswächter sind die Anti-BDS-Beschlüsse ein Fest: Es reicht
       schon, jemandem eine diffuse „Nähe“ zur BDS-Bewegung zu unterstellen, dann
       prüfen Behörden und Politiker, was an den Vorwürfen dran ist. Die
       [3][Beweislast liegt bei den Beschuldigten]: Sie müssen den Verdacht aus
       der Welt räumen. Den Verleumdern dagegen reicht es in der Regel, auf
       fragwürdige Kontakte oder angreifbare Äußerungen verweisen zu können. „Ein
       Klima des Verdachts, der Verunsicherung und Denunziation“ sei dadurch
       entstanden, beklagt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Der
       [4][Publizist Micha Brumlik] spricht von einem „israelbezogenen
       McCarthyismus“.
       
       Die BDS-Beschlüsse haben Folgen. Jede Akademie und jedes Festival, jedes
       Theater, jede Universität und jeder kleine Verein, der öffentliche Gelder
       erhält, muss nun im Zweifel nachweisen können, keinen Israelboykott zu
       unterstützen. Verantwortliche müssen schon im Vorfeld jeder Veranstaltung
       ihre Gäste überprüfen, um kein Risiko einzugehen. Unterlassen sie es, droht
       ihnen das, was der Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp widerfahren ist:
       Weil sie nicht alle Schriften und Äußerungen von Achille Mbembe kannte,
       bevor sie ihn einlud, heißt es nun, sie sei vertrauensselig und naiv
       gewesen. Das schüchtert ein.
       
       ## Was heißt „Unterstützer“?
       
       Die Anti-BDS-Beschlüsse sind vage formuliert und die Rechtslage ist unklar,
       was der Willkür Tür und Tor öffnet. Was heißt etwa „Unterstützer“ bei einer
       Bewegung, die keine eingeschriebenen Mitglieder hat? Sind damit auch
       Menschen gemeint, die ein Raumverbot für BDS-Anhänger ablehnen, ohne deren
       Ziele zu teilen? Der Deutsche Bundestag hat zudem jeden Boykott – auch von
       Waren aus den besetzen Gebieten, die nach EU-Recht völkerrechtswidrig sind
       (!) – unter Antisemitismusverdacht gestellt. Das hat den Spielraum für alle
       Kritiker der israelischen Politik eingeengt – sogar für linke Juden und
       Israelis, die mit BDS gar nichts zu tun haben, von Palästinensern ganz zu
       schweigen.
       
       Dutzende von Veranstaltungen wurden in den letzten Jahren kurzfristig
       abgesagt, weil plötzlich der Vorwurf der „BDS-Nähe“ aufkam. Der
       Schriftstellerin Kamila Shamsie wurde deswegen 2019 der Nelly-Sachs-Preis
       abgesprochen, die Stadt Aachen zog sich von ihrem Kunstpreis für den
       Künstler Walid Raad zurück. Der US-Rapper Talib Kweli musste alle seine
       Deutschlandkonzerte absagen. Ein Jahr zuvor wurde in Düsseldorf eine große
       Ausstellung, die den Allroundkünstler Brian Eno feiern sollte, gestrichen
       und der Musiker ausgeladen. 2017 kippte die Evangelische Akademie Tutzing
       in letzter Minute eine ganze Tagung mit israelisch-palästinensischen
       Friedensgruppen. Das waren nur die prominentesten Fälle: Die Liste ließe
       sich endlos fortsetzen.
       
       Und es wird noch verrückter: Der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin,
       Peter Schäfer, trat im vergangenen Jahr zurück, nachdem ein Tweet (!)
       seines Hauses, in dem es um BDS ging, den Zentralrat der Juden empörte.
       Zuvor hatte Israels Premier Netanjahu persönlich gefordert, dem Museum den
       Geldhahn zuzudrehen, weil es angeblich an „antiisraelischen“ Umtrieben
       beteiligt sei. Der Zentralrat forderte nun sogar den Rücktritt der
       Festival-Intendantin Stefanie Carp, nur weil sie es gewagt hatte, Mbembe
       einzuladen.
       
       Erstaunlicherweise stößt diese ausufernde „Cancel Culture“ bisher kaum auf
       Protest. Im Gegenteil: Statt sich mit Mbembe und Carp zu solidarisieren und
       die Kunst- und Meinungsfreiheit zu verteidigen, sind manche Feuilletonisten
       in ein regelrechtes Jagdfieber verfallen. Sie durchforsten Mbembes Werke
       nach verdächtigen Stellen und betätigen sich eifrig als Zuträger der
       Anklage. Zur Forderung nach einem Auftrittsverbot schweigen sie hingegen.
       
       ## Gängelung von Kunst und Kultur
       
       Im Ausland ist man da sensibler. Hunderte Künstler und Intellektuelle haben
       [5][den BDS-Beschluss des Bundestags kritisiert] oder sich [6][mit Mbembe
       solidarisiert], darunter viele linke Juden und Israelis. Gerade erst haben
       400 weitere Künstler und Kuratoren, auch Kamila Shamsie und Achille Mbembe,
       [7][einen offenen Brief] verfasst, in dem sie die Gängelung von Kunst und
       Kultur in Deutschland kritisieren. Sie wollen sich nicht mehr an
       Berufungsgremien und Jurys beteiligen, solange dort Gesinnungsschnüffelei
       herrscht.
       
       Deutschlands Kulturleben droht durch die Anti-BDS-Hysterie zu verarmen.
       Hiesige Intellektuelle und Künstler sollten dagegen endlich klar Stellung
       beziehen.
       
       18 May 2020
       
       ## LINKS
       
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   DIR [7] https://nopoliticallitmustests.wordpress.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Bax
       
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       Bei der Debatte um Achille Mbembe geht es weniger um dessen angeblichen
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       aufzuarbeiten.