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       # taz.de -- Lockerungen bei Corona-Maßnahmen: Hemdsärmelige Obergrenze
       
       > Mehr als fragwürdig: Der willkürlich festgelegte Grenzwert von 50
       > Infektionen je 100.000 Einwohner ist eine gefährliche Beruhigungspille.
       
   IMG Bild: Mund- und Nasenschutz macht es möglich: Zahlreichen Lockerungsmaßnahmen treten in Kraft
       
       Das Koordinatensystem der Corona-Krisenbewältigung hat sich geändert. Und
       mit ihm die Bildsprache. Statt atemloser Patienten auf Intensivstationen
       und provisorisch gestapelter Leichname sind wir jetzt verstärkt mit der
       Jeremiade krisengebeutelter Firmenchefs und Tourismusmanager konfrontiert,
       dazu die unvermeidlichen Blechhalden unverkäuflicher Autos auf den
       Hinterhöfen der Automobilkonzerne. Bis auf die Kommastelle wird der Absturz
       der Wirtschaft in 2020 hochgerechnet. Minus 6,3 Prozent. Die große
       Drohkulisse.
       
       Nicht weniger unseriös als die 6,3-Prozent-Rechnung ist [1][der jetzt
       festgelegte Grenzwert] von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben
       Tagen, der von der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten als Obergrenze
       festgelegt wurde. Wird sie gerissen, müssen die Lockerungsmaßnahmen
       zurückgenommen werden. Der Wert gilt für jeden einzelnen Landkreis. Die
       Größe, die Einwohnerdichte, die Altersstruktur, die Testintensität – spielt
       dabei alles keine Rolle. Das zeigt schon, wie hemdsärmelig diese Regelung
       daherkommt.
       
       Für die Metropolen mit hoher Einwohnerdichte wie Berlin, München oder
       Hamburg wären die 50 eine Katastrophe. Für kleine Landkreise reicht dagegen
       schon ein einziger Infektionsherd, um über die Obergrenze hinaus zu
       schießen.
       
       [2][Berlin hatte zu schlimmsten Zeiten] der Infektionswelle einen
       Höchstwert von 37. Bei 22 war der verschärfte Lockdown in der Hauptstadt
       eingeleitet worden. München hatte zuletzt einen Infektionsrate von 21.
       Würde sie sich verdoppeln, es würde gemäß der 50er-Regel nichts passieren.
       
       Es sei vollkommen schleierhaft, wie der viel zu hohe Wert zustande gekommen
       ist, bringt es der Bundesverband der Ärzte des öffentlichen
       Gesundheitswesens auf den Punkt. Das Robert-Koch-Institut hat eilig
       erklärt, am Zustandekommen nicht beteiligt gewesen zu sein. Kritik kommt
       von allen Seiten – vergeblich.
       
       ## Jede Infektionswelle hat einen kleinen Anfangsherd
       
       Kaum ist der Wert veröffentlicht, tauchen drei Landkreise rotmarkiert auf
       der Deutschlandkarte auf: [3][Coesfeld], Greiz und Steinburg haben die 50
       überschritten. Und was passiert? Fast nichts.
       
       In Greiz will Landrätin Schweinsburg die Lage weiter beobachten. Die
       dortigen Ausbrüche werden mit Blick auf die betroffenen Alten- und
       Pflegeheime als nur „einrichtungsbezogen“ schöngeredet. Als würde nicht
       jede große Infektionswelle auf einen [4][kleinen Anfangsherd] zurückgehen.
       Das ist ja gerade das Wesen einer Epidemie.
       
       Die Landrätin erklärt ungeniert, man könne Wirtschaft und Gastronomie
       „keine weiteren Blockaden aufbürden“. Es mache „wenig Sinn, bei uns alles
       zu verbieten, was wenige Kilometer weiter möglich ist“. Deutlicher kann man
       die 50er-Regelung – kaum dass sie in Kraft getreten ist – nicht in die
       Tonne treten.
       
       Die Landräte stehen unter gewaltigem Druck und trauen sich nicht, mit
       harten Maßnahmen zu intervenieren, weil sie ihre lokale Wirtschaft nicht
       abwürgen wollen. Klar ist auch, dass kein Landkreis deutschlandweit als
       hochinfektiöses Virusnest gebrandmarkt werden will. Es geht um Ansehen und
       um Scham. Um die Infektionszahlen zu schönen, können notfalls auch die
       Tests heruntergefahren werden.
       
       Der Deutsche Landkreistag pocht jedenfalls auf Beinfreiheit und wehrt sich
       bei erkennbaren Infektionsherden gegen Maßnahmen für die Allgemeinheit.
       Wenn dann noch Kanzleramtsminister Braun via Talkshow souffliert, es gebe
       bei Überschreiten der 50 keinen Automatismus für die Rücknahme der
       Lockerungen, dann wird der Grenzwert endgültig zur Farce.
       
       Er ist nicht mehr als eine Beruhigungspille. Mit womöglich heftigen
       Nebenwirkungen. Weit wichtiger als die 50er Obergrenze bleibt [5][die
       Reproduktionszahl. Sobald sie wieder an mehreren Tagen die 1,0 übersteigt],
       wird der absurde Wettstreit um die Lockerungsübungen gestoppt. Dann müssen
       die Landräte an Merkel und RKI-Chef Wieler übergeben.
       
       10 May 2020
       
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   DIR Manfred Kriener
       
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