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       # taz.de -- Dorthe Nors „Die Sonne hat Gesellschaft“: Die Finger von Tante Clara
       
       > In kurzen, verdichteten Stücken erzählt die dänische Autorin Dorthe Nors
       > von ungeklärten Lebensfragen und lange nachwirkenden Ereignissen.
       
   IMG Bild: Die dänische Autorin Dorthe Nors erzählt von Rückzug und Abkapselung
       
       Die Zeilen, die Dorthe Nors ihrem Erzählband „Die Sonne hat Gesellschaft“
       voranstellt, entfalten heute eine spezielle Bedeutung: „Es ist immer
       möglich, sich ein Stück weiter zurückzuziehen.“ Natürlich konnte die
       Autorin 2018, als das Original erschien, nichts vom Coronavirus und den
       damit einhergehenden Kontaktbeschränkungen wissen, sie meint etwas ganz
       anderes.
       
       Ihre Figuren bewegen sich durchaus unter Menschen, doch obwohl sie
       keinerlei Abstandsregeln unterliegen, finden keine Begegnungen statt; sie
       sind in sich selbst verkapselt, abgetrennt von ihrer Umgebung – ganz ohne
       Quarantäneverordnung.
       
       Die 1970 geborene dänische Autorin hat bereits mehrere Romane geschrieben,
       war mit „Rechts blinken, links abbiegen“ 2017 für den Man Booker
       International Prize nominiert und veröffentlicht unter anderem im New
       Yorker. Ihre Geschichten sind kurze, verdichtete Stücke, in denen Nors in
       Alltagssituationen einsteigt, um dann von gegenwärtigen Krisen, ungeklärten
       Lebensfragen oder auch in der Vergangenheit liegenden, immer noch wirkenden
       Ereignissen zu erzählen.
       
       ## Schokokuchen und Hygge
       
       „Dann saßen wir da, Lilly und ich. Sie hatte Kaffee gekocht und einen
       Schokoladenkuchen gebacken, so einen, der in der Mitte weich ist.“ So
       harmlos beginnt die Erzählung „Hygge“, in der Nors die so trendige
       Vorstellung typisch dänischer Gemütlichkeit ad absurdum führt.
       
       Lilly und der männliche Ich-Erzähler kennen sich aus dem Seniorenklub, und
       jetzt will Lilly es sich mit ihm „so richtig gemütlich“ machen. Der Geruch,
       ihre Hand „unter meinem Hosenbund, und sie wollte meine Hand“ – das
       katapultiert den Erzähler in die Kindheit, in eine ähnliche Szenerie mit
       seiner Tante Clara, „mit ihren Fingern in meinem Nacken“.
       
       Und dann überblendet Nors die Zeitebenen, unvermittelt springt ein Satz in
       die Vergangenheit, ein anderer zurück in die Gegenwart. Oft ist es nur ein
       Wort, das dies kenntlich macht. Man muss genau lesen, denn bei Nors
       offenbaren wenige Worte, kurze undramatische Sätze Bedeutsames. So zeigt
       sie hier den Missbrauch des Jungen. Das verheißt nichts Gutes in der
       gegenwärtigen Situation.
       
       ## Unruhe und aufsteigende Angst
       
       Oft bewegen sich ihre weiblichen oder männlichen Figuren in weiten
       Landschaften. Oder aber sie sind in einer US-amerikanischen Stadt wie L. A.
       unterwegs, wie die Protagonistin in „Pershing Square“. Draußen die Hitze,
       vorm Hotel „haben sie einen Turm gebaut und eine Christbaumkugel obendrauf
       gesetzt. Ein seltsamer, sinnloser Turm, denkt sie“: Die Unruhe, die
       aufsteigende Angst ihrer Figur spiegelt die Autorin in deren Wahrnehmung
       der Stadt. Der sinnlose Turm ist dabei ein wiederkehrendes Bild, das ihrer
       Orientierungslosigkeit entspricht.
       
       Es geht auch um ihr Verhältnis zu Männern und das zwischen Männern und
       Frauen allgemein. Konkreter wird Nors hier nicht, aber das ist kein Makel.
       
       Ebenso wenig wie in „Zwischen den Filialen“. Ein Geschäftsmann auf Reisen,
       die sich gleichenden Gespräche in den identisch aussehenden Filialen eines
       ungenannt bleibenden Unternehmens. Routine, Kontrolle, Sauberkeit sind ihm
       wichtig. Doch dann dieser wiederkehrende Traum von Vegetation, die „rings
       um mich und durch mich hindurch(wuchs)“, Wasser und der Vogel, der ihm
       unter einem weiten Himmel das Fleisch von den Rippen pickt.
       
       ## Kindheit und Sehnsucht
       
       Ein assoziativer Sprung in die Kindheit. Und zum Schluss seine Sehnsucht,
       sich in dem kräftigen Strom des schmutzigen Mississippi zu versenken, „aber
       nun saß ich dort am Ufer. Dann lag ich. Als ich eine Weile gelegen hatte,
       kam der Vogel.“
       
       Manchmal benennt Nors die Probleme klarer, sie muss es aber nicht tun. Wie
       sie die Verfasstheit ihrer Figuren zeichnet, in genauen, manchmal zugleich
       beiläufig erscheinenden Sätzen ihre Verletzlichkeiten gleichsam diskret
       offenbart, das ist eine feine, konzentrierte Erzählkunst.
       
       20 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carola Ebeling
       
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