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       # taz.de -- Inklusion in Corona-Zeiten: Hinter die Glasscheibe gesperrt
       
       > Der kleine Frederick soll den Unterricht hinter einem Fenster verfolgen,
       > weil er das Down-Syndrom hat und Probleme, sich an Abstandsregeln zu
       > halten.
       
   IMG Bild: Plötzlich wieder draußen: Die Corona-Schutzregeln schaffen Probleme bei der Inklusion
       
       Hamburg taz | Der Sonderling hinter der Glasscheibe – als solcher werde
       sein Sohn womöglich bald wieder gesehen, befürchtet Ralf von der Heide.
       Frederick ist sieben Jahre alt. Er hat das Down-Syndrom und geht in die
       erste Klasse einer Hamburger Grundschule – im Prinzip, denn seit dem 28.
       Februar ist der Unterricht wegen der Coronapandemie ausgesetzt. Jetzt soll
       er [1][langsam wieder anlaufen], aber unter Vorsichtsmaßnahmen, die von der
       Heide für stigmatisierend hält.
       
       Frederick soll zu seinem Schutz und dem der anderen in den Gruppenraum
       neben dem Klassenzimmer. Betreut von einem Erzieher soll er von dort aus
       dem Geschehen im Klassenraum folgen können. „Sobald Frederick die Abstands-
       und Hygieneregeln verinnerlicht hat, darf er unter Auflagen den gläsernen
       Käfig auch verlassen“, schreibt der Vater und fügt ironisch an: „Ein
       schönes Beispiel für gelebte Inklusion in Coronazeiten.“
       
       Die Regelung mache es möglich, dass Kinder aus Risikogruppen im Sinne der
       Inklusion überhaupt in die Schule gehen könnten, sagt dagegen Ingrid
       Körner, die [2][Senatskoordinatorin] für die Gleichstellung behinderter
       Menschen. Der Aufenthalt im Gruppenraum, in den sich die Kinder auch sonst
       zurückziehen können, diene dazu, Frederick einzugewöhnen. Andere Kinder
       dürften ihn dort nach Absprache und je nachdem, wie gut das klappt,
       besuchen.
       
       Körner erinnert daran, dass das Wiederhochfahren des Unterrichts für alle
       Kinder befremdlich sein wird. Alle müssten sie die Abstands- und
       Hygieneregeln lernen, dürften nicht herum rennen oder sich balgen, aber
       Frederick gehöre eben zu jenen, denen das besonders schwer falle. „Das Ziel
       ist, dass auch dieses Kind wieder komplett am Unterricht teilnehmen kann“,
       sagt Körner.
       
       ## Kollateralschaden der Corona-Krise?
       
       Fredericks Vater ist da skeptisch: „Wenn das so einfach wäre, ihm das
       beizubringen, hätte er wahrscheinlich gar keinen Förderbedarf“, sagt von
       der Heide. Alles, was sein Sohn an der Schule schätze – der Morgenkreis,
       die Begegnungen – falle weg. Er fragt sich, was geschieht, wenn sein Sohn
       die Regeln eben nicht verinnerlicht, was wenn die Pandemie andauert? „Ist
       die Inklusion ein Kollateralschaden der Coronakrise?“, fragt von der Heide.
       
       Der Vater befürchtet, dass sein Sohn „sehr wild werden wird, weil er
       natürlich mit den anderen in einem Raum sein will“. Dass es keinen
       Körperkontakt geben solle, werde für seinen Sohn schwer zu verstehen sein.
       Und dazu komme noch die Absonderung: „Die Rolle als Sonderling wird so
       richtig allen vor Augen geführt.“
       
       Kerrin Stumpf, Geschäftsführerin des [3][Vereins Leben mit Behinderung],
       findet „Sonderling“ einen guten Ausdruck, weil er die Stigmatisierung auf
       den Punkt bringt. „Das ist unsere ganz große Sorge im Verein“, sagt sie.
       Durch die Corona-Vorsorgemaßnahmen seien Menschen mit Behinderung
       [4][plötzlich wieder außen vor]. Auch Eltern empfänden wieder stärker:
       „Mensch, mein Kind funktioniert nicht.“
       
       Stumpf erinnert daran, dass die Inklusion schon im Regelbetrieb eine
       Herausforderung für die Schulen sei. Umso mehr gelte das für die
       Coronakrise. Bei der Schulöffnung müsse auf die Verhältnismäßigkeit
       geachtet werden. „Wenn ein Kind eine Gefahr darstellt, wäre das System
       nicht haltbar und die Schule müsste schließen“, sagt sie. Leider
       begünstigten ja schon allein die architektonischen Gegebenheiten nicht die
       Inklusion.
       
       Die Lösung, die die Schule anbiete, sei ein Angebot, das dem Kind den
       Anschluss an die Gruppe ermögliche. Laut Auskunft der Schulbehörde können
       Eltern ihr Kind auch zu Hause lassen, wenn sie es für gefährdet halten.
       Aber auch Lehrer reagierten zum Teil panisch, wenn sie Kinder nicht auf
       Abstand halten könnten. „Dass Frederick in ein Bildungsangebot einbezogen
       wird, ist mehr, als vielen in der Notbetreuung angeboten wird“, sagt
       Stumpf.
       
       Allerdings müsse genau darauf geachtet werden, was für das jeweilige Kind
       gut sei. Es sei eine Riesenaufgabe für die Schule und die Eltern, das
       abzuklären. Stumpf findet, es gelte, die Schulen zu ermutigen, „dass sie
       sich was trauen“.
       
       Von der Heide bemängelt, dass er während der Zeit der Schulschließung keine
       Informationen von der Behörde erhalten habe. „Seit Ende Februar waren wir
       auf uns allein gestellt“, sagt er.
       
       Die Coronakrise sei „eine Geduldsprobe für Angehörige wie für Menschen mit
       Behinderung“, bestätigt Stumpf. Vielen Familien, mit denen sie zu tun habe,
       werde das langsam klar und den Eltern mit Schulkindern zuerst. Sie hofft,
       dass sich das, was für sie der Clou an der UN-Behindertenrechtskonvention
       ist, auch in der Coronakrise zur Geltung bringen lässt: „Das ist nicht Dein
       Problem, sondern das der Gesellschaft.“
       
       25 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Streit-um-Hamburger-Schuloeffnungen/!5679977
   DIR [2] https://www.hamburg.de/skbm/
   DIR [3] https://www.lmbhh.de/
   DIR [4] /Menschen-mit-Behinderung-in-Coronakrise/!5683276
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gernot Knödler
       
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