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       # taz.de -- Investigative TV-Formate: Zur besten Sendezeit
       
       > RTL versteckt Investigation nicht mehr im Spätprogramm. Günter Wallraff
       > hofft, bei dem Privatsender ein jüngeres Publikum zu erreichen.
       
   IMG Bild: Investigativjournalist Günter Wallraff hat den Arbeitgeber RTL schätzen gelernt
       
       Investigation oder sozialkritische Inhalte schaffen es im deutschen
       Fernsehen selten auf die Primetime. 20.15 Uhr, das ist Unterhaltung, das
       ist Film oder Show. Knallharte Inhalte hingegen, etwa Recherchen zu
       Missständen in Politik und Wirtschaft, laufen, wenn überhaupt, später. So
       in etwa lässt sich die Formel der Programmverantwortlichen zusammenfassen.
       Aber könnte es nicht auch anders sein? An sich ist doch gerade
       Investigation etwas Spannendes und, wenn gut aufbereitet, Unterhaltsames.
       
       Ausgerechnet RTL, der Sender mit den zahlreichen Trash-Formaten, hat
       dagegen mit „Team Wallraff“ ein Enthüllungsformat etabliert, das seit acht
       Jahren regelmäßig Skandale aufdeckt, gesellschaftliche Diskussionen
       auslöst, für gute Einschaltquoten sorgt und obendrein die junge Zielgruppe
       zur besten Sendezeit erreicht. Die nächste Folge ist in Vorbereitung und
       dürfte noch in diesem Jahr wieder für Zündstoff sorgen.
       
       Dabei war sich Günter Wallraff anfangs nicht sicher, ob er zu dem Kölner
       Privatsender gehen sollte, wie er selbst sagt. „Es war für mich zuerst eine
       Überwindung, RTL anzusprechen, aber ich hatte den Gedanken, dass ich an die
       herankomme, die ich sonst nicht erreiche, etwa Jüngere, die im Beruf
       stehen, die keinen akademischen Hintergrund haben.“
       
       Bedenken habe er wegen einiger Formate des Privatsenders gehabt, in denen
       Menschen schon mal entwürdigend vorgeführt würden. Aber das „große
       Potenzial“ von RTL, Zugang zu einem Publikum zu ermöglichen, das ARD und
       ZDF mit einer im Schnitt über 60-jährigen Zuschauerschaft längst verloren
       hätten, habe dann den Ausschlag gegeben.
       
       Angst vor juristischen Konsequenzen 
       
       Aus Wallraffs Sicht schrecken die öffentlich-rechtlichen Sender, abgesehen
       von einigen Magazinsendungen am späten Abend, inzwischen allzu oft davor
       zurück, an kontroverse Themen aus dem Innenleben der Wirtschaft
       heranzugehen – zum Teil aus Angst vor juristischen Konsequenzen, wie er
       sagt. „Bei RTL ist das ganz anders, sie standen immer hinter mir, scheuen
       auch vor langwierigen und kostenintensiven Prozessen nicht zurück.“
       
       Aktuelles Beispiel: ein Rechtsstreit mit den Helios-Kliniken, der jetzt vor
       dem Bundesgerichtshof zugunsten von RTL entschieden wurde. Eine
       Mitarbeiterin von „Team Wallraff“ hatte zuvor in Krankenhäusern
       recherchiert und dort Missstände dokumentiert.
       
       Der Film- und TV-Produzent Gerhard Schmidt, der mit Günter Wallraff über 40
       Jahre zusammengearbeitet hat, teilt dessen These. „Die
       Öffentlich-Rechtlichen erlegen sich fast schon eine Art freiwillige
       Selbstzensur auf, was Investigativreportagen angeht, das gilt nicht für die
       Redaktionen, es sind eher die Anwälte im Sender, die bremsen.“
       
       Knackpunkt ist aber nicht nur, ob Sender Investigation beauftragen, sondern
       wie sie für ein breites Publikum funktionieren kann, anstatt spätabends in
       der Nische zu laufen. Wichtigste Voraussetzung dafür sei, zu wissen, wer
       das Publikum ist, sagt RTL-Chefredakteur Michael Wulf. „Den Medien und
       damit auch uns TV-Sendern wird oft vorgeworfen, die unterschiedlichen
       Lebenswelten der Zuschauer zu wenig zu kennen“, sagt Wulf. „70 Prozent
       unserer Zuschauer leben in Städten mit 20.000 Einwohnern und weniger, da
       sind die Themen ganz anders gesetzt als in Großstädten“
       
       Sich selbst eine Meinung bilden 
       
       Vor einigen Jahren bezogen RTL-Redakteur*innen deshalb für einige Zeit
       beispielsweise Wohnungen in Plattenbausiedlungen oder Miethäusern, um mit
       den Menschen aus der Zielgruppe in Kontakt zu kommen, mit ihnen zum
       Beispiel gemeinsam einzukaufen, in den Sportverein zu gehen oder auch
       gemeinsam fernzuschauen.
       
       Ergebnis für Wulf und Kollegen: Ihr Publikum setzt sich bewusst mit
       gesellschaftlichen und politischen Themen auseinander, auch wenn sie
       Nichtakademiker sind. Aber manchmal fehlt die Zeit, um stärker in die Tiefe
       zu gehen. „Sie wollen keine vorgefertigte Meinung, sondern sie wollen
       Informationen, um sich selbst eine Meinung bilden zu können.“
       
       Die Erkenntnis sollte eigentlich wenig überraschend sein. Sozialkritische
       Reportagen sind selbstverständlich, weil sie alle betreffen, auch für alle
       interessant. Ob aus dieser Erkenntnis wohl weitere Formate folgen werden?
       Bei den Privaten wie bei ARD und ZDF? Es bleibt spannend.
       
       27 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wilfried Urbe
       
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