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       # taz.de -- CDU-Abgeordnete gegen Mindestlohn: Neoliberale Ultras
       
       > Der Mindestlohn ist ein Fakt, kein Wunschkonzert. Wirtschaftsliberale aus
       > der Union stellen den Status quo trotzdem öffentlich infrage.
       
   IMG Bild: Weniger Mindestlohn würde unter anderem Menschen in Serviceberufen treffen
       
       Die Ansage war deutlich, und sie war öffentlich. CDU-Chefin Annegret
       Kramp-Karrenbauer twitterte am Dienstagmorgen: [1][„Hände weg vom
       Mindestlohn“]. Bemerkenswert war nicht nur die kurze Strenge dieser
       Botschaft – sondern vor allem der Adressatenkreis. Kramp-Karrenbauer rief
       Bundestagsabgeordnete ihrer eigenen Partei zur Ordnung.
       
       Die AG Wirtschaft und Energie der Unionsfraktion hatte nämlich ein
       sechsseitiges Papier in Umlauf gebracht, in dem unter anderem gefordert
       wird, den [2][gesetzlichen Mindestlohn] nicht weiter anzuheben oder sogar
       abzusenken. Nach dem Motto: Die Coronazeiten sind für die Unternehmen so
       schwierig, da müssen die Beschäftigten leider verzichten.
       
       Kramp-Karrenbauer blieb nur die klare Kante, wenn sie verhindern wollte,
       dass sich ihre Partei lächerlich macht. Denn noch haben alle im Ohr, wie
       salbungsvoll sich Kanzlerin Merkel in ihrer Corona-Fernsehansprache an die
       Niedriglöhner gewandt hat: „Lassen Sie mich auch hier Dank aussprechen an
       Menschen, denen zu selten gedankt wird. Wer in diesen Tagen an einer
       Supermarktkasse sitzt oder Regale befüllt, der macht einen der schwersten
       Jobs, die es zurzeit gibt. Danke, dass Sie da sind für Ihre Mitbürger und
       buchstäblich den Laden am Laufen halten.“
       
       Nach diesen pathetischen Worten der Kanzlerin war und ist völlig klar, dass
       die Union nicht am Mindestlohn rütteln kann. Zumal der Koalitionspartner
       SPD sowieso nie zustimmen würde. Diese Gefechtslage dürfte auch den
       neoliberalen Ultras in der Union bekannt sein, aber um Realpolitik ging es
       nie. Die Wirtschaftsliberalen wollten maximale Aufmerksamkeit erzielen, und
       dieses Kalkül ist aufgegangen. Denn das Reizwort „Mindestlohn“ hat
       verlässlich dafür gesorgt, dass ihr Papier nun durch alle Medien, Parteien
       und Gewerkschaften geistert.
       
       ## Wie lästige Badegäste
       
       Aufmerksamkeit ist bares Geld wert, wie die Wirtschaftsliberalen genau
       wissen. Mit billigster Rhetorik haben sie ihren Verhandlungsspielraum
       erweitert. Der Mindestlohn ist eigentlich ein Fakt, kein
       Wünsch-dir-was-Thema, aber indem der Status quo infrage gestellt wird,
       avanciert das Lohnniveau plötzlich zur Verteilungsmasse. Es entsteht der
       Eindruck, als müsste man den Wirtschaftsliberalen deutlich entgegenkommen,
       damit auch sie ihren fairen Anteil erhalten, falls der Mindestlohn
       weiterhin gelten soll.
       
       Die Wirtschaftsliberalen verhalten sich wie lästige Badegäste am Pool, die
       auf fünf Liegestühlen ihre Handtücher ausbreiten, damit sie hinterher
       mindestens zwei Liegen behalten können, obwohl man eigentlich gar keinen
       Stuhl für sich reservieren darf.
       
       Die Wirtschaftsliberalen haben ihr wahres Ziel fest im Blick: Wie in ihrem
       Papier nachzulesen ist, wollen sie erreichen, dass der Soli komplett
       abgeschafft wird – und zwar zum 1. Juli 2020. Der Deal soll also sein, dass
       der Mindestlohn bleibt, dafür aber die Reichen stattlich entlastet werden.
       
       [3][Der Soli ist so kompliziert], dass viele Wähler bis heute nicht
       begriffen haben, dass die Wohlhabenden schon wieder Steuergeschenke
       erhalten. Also von vorn: Der Soli ist ein Zuschlag von 5,5 Prozent, der auf
       die Einkommensteuer anfällt. Da es aber verschiedene Freigrenzen gibt,
       belastet der Soli nur die obere Hälfte der Steuerzahler. Vor allem das
       reichste Fünftel würde profitieren, wenn der Soli gestrichen wird.
       
       Die Hälfte des Steuergeschenks haben sich die Wohhabenden bereits
       gesichert, denn die SPD hat sich auf einen unerfreulichen Kompromiss
       eingelassen: Ab 1. Juli 2020 soll der Soli für 90 Prozent aller
       Steuerzahler entfallen, was fast zehn Milliarden jährlich kostet. Doch
       CSU-Chef Markus Söder will mehr und drängelt, den Soli komplett zu
       streichen, was weitere neun Milliarden jährlich verschlingen würde und nur
       den Allerreichsten zugute käme. Nun hat Söder taktische Hilfe erhalten –
       durch das Papier der Wirtschaftsliberalen im Bundestag.
       
       26 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/akk/status/1265192396448505857
   DIR [2] /!t5008042/
   DIR [3] /Abschaffung-des-Soli-Zuschlags/!5617463
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Herrmann
       
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