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       # taz.de -- Verschwörungserzählungen in der taz: Der böse Staat
       
       > Die taz war in den 80er Jahren nicht immer auf der Seite lichter
       > Aufklärung. Der Staat wurde oft als finstere Macht dämonisiert.
       
   IMG Bild: Ähnlich wie die taz damals sehen sich „Hygienedemos“ als Ruf in einer „lügenden Medienlandschaft“
       
       Im April 1980 titelte die taz „Hat die RAF doch recht?“ und zitierte auf
       Seite 1 als verlässlichen Kronzeugen Andreas Baader. Der hatte prophezeit:
       „Wenn wir im Gefängnis umkommen, dann war das der Geheimdienst.“ Im Oktober
       1980 schrieb der Essayist [1][Wolfgang Pohrt] in der taz, dass „an akuter
       Hirnerweichung leidet“, wer nicht glaube, dass Baader, Ensslin und Raspe
       in Stammheim ermordet wurden.
       
       Und: „Die Selbstgleichschaltung der Medien ist total. Vermutlich perfekter
       als die verordnete es bei den Nazis je war“, so [2][Pohrt]. Die heutzutage
       auf den sogenannten Hygienedemos reklamierte Rolle des einsamen Rufers in
       einer von Lügen beherrschten Medienlandschaft war der taz in ihren frühen
       Jahren nicht fremd.
       
       Die taz würde es ohne die RAF nicht geben. Der Deutsche Herbst, die Toten
       in Stammheim, die Nachrichtensperre und die Hatz auf Sympathisanten waren
       die Initialzündung für die Gründung der taz.In Sachen RAF war die taz
       gespalten. Sie hielt den Terror für falsch, war aber gefühlsmäßig oft auf
       der Seite der Desperados. Und das schloss den Glauben ein, dass der Staat
       seine Feinde 1977 exekutiert hatte und dies nun mit Hilfe willfähriger
       Medien vertuscht wurde.
       
       Im April 1980 zitierte die taz einen dänischen Kriminologen, der die
       Selbstmordthese endgültig zum Einsturz gebracht zu haben glaubte: „Drei
       Dinge könnten uns dazu bringen an einen Selbstmord in Stammheim zu glauben:
       Fingerabdrücke auf der Pistole, Pulverspuren auf der Hand und ein
       Abschiedsbrief. Aber alle drei Beweise fehlen.“ Allerdings bemerkt die
       Redaktion zerknirscht, dass das Interesse des Publikums an der Verschwörung
       im Herbst 1977 schwand. „Einige Leser stöhnen – schon wieder Stammheim.“
       
       ## Gezielt beiseite geräumt
       
       Der Glaube, dass Baader & Co gezielt beiseite geräumt wurden, dockte an das
       grundsätzliche Staatsmisstrauen der Neuen Linken an. Die Linien der
       linksradikalen Staats- & Demokratiekritik hatte 1967 Johannes Agnoli in
       „Die Transformation der Demokratie“ vorgezeichnet. Die war doppelgesichtig.
       Ihr Ideal war eine befreite, rätedemokratisch organisierte Gesellschaft –
       der bürgerliche Parlamentarismus erschien daran gemessen als verkrüppelte
       Form. Demokratie und Parlament wurden als bloße Fassaden verstanden – das
       überschritt die Grenze zu antiliberalen Ideologien.
       
       Zum gewöhnlichen linksalternativen Überzeugungskanon gehörte, dass
       Bundestag und Regierung nur Kulissen waren, die verbargen, wer wirklich das
       Sagen hatte: Konzerne, Banken, USA. Diese Weltsicht siedelte im
       Grenzbereich einer Verschwörungserzählung, in der die Macht unsichtbar oder
       im Halbdunkel aktiv ist. Oberflächlich betrachtet ist das nicht weit
       entfernt von der „simulierten Demokratie“, die Querfrontpropagandisten wie
       der Ex-Journalist Ken Jebsen heutzutage bekämpfen.
       
       Allerdings war die recht grobschlächtige Staatsskepsis der
       Linksalternativen nichts fest Gemauertes, und nicht hermetisch gegen
       Zweifel abgedichtet. Das unterscheidet sie von heutigen
       Verschwörungserzählungen.
       
       ## Weg vom Staat als Gegner
       
       Die ironische Infragestellung aller Weltbilder, vor allem wenn sie mit dem
       Gestus der Bedeutsamkeit vorgetragen wurden, kennzeichnete die taz von
       Beginn an. Zudem waren die Gründung von taz und Grünen praktische Schritte,
       die die Fixierung auf den Staat als Gegner lösten. Als 1981 ein
       RAF-Gefangener im Hungerstreik starb, notierte der vormals linksextreme
       taz-Redakteur Götz Aly lustlos: „Als der Tod von Sigurd Debus im Radio
       mitgeteilt wurde, habe ich kurz zugehört und dann die tägliche taz-Post
       weitergelesen. Ich bin älter geworden, habe in mehreren Berufen gearbeitet
       und habe ein paar Kinder.“
       
       Die taz begann als Kampforgan gegen den Staat, das die Grenzen von
       Verschwörungsideen streifte, segelte aber in eine andere Richtung. Wie die
       Alternativbewegungen driftete sie vom Rand in die Mitte der bundesdeutschen
       Wirklichkeit.
       
       Auch das trennt sie von rechten Antiliberalen im Jahr 2020. Denn die werden
       in ihren Social-Media-Blasen durch das Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie
       vom Ufer der Vernunft weggetrieben: Radikal verkauft sich besser. Die
       dialektische Wendung, die rechte Verschwörungsagitatoren zu einer
       Bereicherung der Demokratie macht, ist auch mit viel Fantasie nicht
       erkennbar.
       
       ## Mehr Betroffenheit
       
       In den 80er Jahren betrat ein neuer Typus die Protestbühne: Der
       intellektuell geschulte Linke, der an Fortschritt und Arbeiterklasse
       glaubte, verschwand. Die Anti-AKW- und Friedensbewegung wurde von
       Aktivisten bevölkert, die selbstbewusst ihre Angst vor der Apokalypse
       kundtaten. „Die Kultivierung individueller Angstfähigkeit“ (Frank Biess)
       und die Subjektivität – im Jargon: Betroffenheit – rückten ins Zentrum. Die
       taz war ihr Zentralorgan.
       
       Die Gefühlspolitik der Bewegungen war die Antwort auf die zweckrational
       verkürzte, kalte Sachlichkeit, die die Republik mit AKWs und Atomraketen
       überzog und deren technokratischer Machbarkeitsglaube selbst ins
       Irrationale kippte. Die empfindsame Subjektivität der Bewegungen klang
       mitunter kitschig. Doch gerade die heftigen Affekte und das Pathos des
       Authentischen verhalfen der rationalen Erkenntnis zum Durchbruch, dass
       Atomkraft jedes verantwortbare Risikomanagement sprengt.
       
       Ein Erbe der Gefühlspolitik der 80er Jahre ist: Protest ist legitim. Wer
       sich entfremdet, unbehaglich oder bedroht fühlt, tut das auf der Straße
       kund. Jene heutigen DemonstrantInnen in Stuttgart, München und anderswo,
       die nicht zum organisierten Rechtsextremismus zählen, sind insofern auch
       Nachfahren dieser Protestkulturen. Staat und Regierung grundsätzlich Böses
       zuzutrauen, ist auch ein Erbe linker Staatsskepsis.
       
       Holger Strohm, Autor des Atomkraft-kritischen Bestsellers „Friedlich in die
       Katastrophe“, erklärte in der taz 1981, dass „die Menschheit zielstrebig
       Selbstmord“ begeht. Die Welt werde „spätestens in 20 Jahren“ untergehen. Im
       Jahr 2020 sendet Strohm die rechtsextreme Apokalypsewarnung, dass
       Deutschland von „Zehntausenden Kriminellen, Kranken und Terroristen
       überflutet“ wird. Untergangsprognosen sind ein flexibles Genre.
       
       Ein zentraler Unterschied zwischen Bewegungen der 80er Jahre und manchen
       Coronaprotesten ist – der Inhalt. Gegen die Vorstellung, dass Bill Gates
       nach der Weltherrschaft greift und dabei im Kanzleramt willige Helfer hat,
       ist die in der Anti-AKW-Bewegung populäre Idee, dass der Staat bloße
       Marionette der Atommafia ist, eine maßvolle, nüchterne Analyse.
       
       22 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Pohrt
   DIR [2] /Nachruf-auf-Wolfgang-Pohrt/!5561736
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
       ## TAGS
       
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