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       # taz.de -- Pastor über die Aktualität der Seelsorge: „Viele Debatten erlebt“
       
       > Krischan Heinemann, neuer Leiter des Beratungs- und Seelsorgezentrums an
       > St. Petri in Hamburg, hat mitten in der Coronakrise den Job gewechselt.
       
   IMG Bild: Wieder für Live-Seelsorge geöffnet: Hamburgs St. Petri-Kirche
       
       taz: Herr Heinemann, Sie waren bis Ende März Pastor der Evangelischen
       Studentengemeinde in Kassel. Ist christliche [1][Seelsorge] noch gefragt? 
       
       Krischan Heinemann: Ich habe insbesondere internationale Studierende
       beraten, und da besteht durchaus Bedarf. Denn weil sie eine so kleine
       Gruppe sind unter den internationalen Menschen in Deutschland, sind sie aus
       dem Blick geraten. Dabei haben sie in Coronazeiten besondere Probleme.
       
       Inwiefern? 
       
       Weil sie – sofern sie nicht aus EU und westlicher Hemisphäre kommen – nur
       von jenen Kleinst-Jobs leben, die ihnen ihr Aufenthaltstitel erlaubt. Sie
       dürfen nur 500 Euro verdienen, sodass jede Veränderung zu einer
       existenziellen Krise wird. Da war eine Aufgabe der [2][Studentengemeinde],
       ihnen mit Geld – zum Beispiel auch von „Brot für die Welt“ – zu helfen, in
       Form kleiner Entwicklungshilfe-Projekte. Eng verknüpft mit diesen
       Finanzproblemen ist oft der Kulturschock.
       
       Was liegt ihm zugrunde? 
       
       Studierende kommen leider oft mit großen Illusionen hierher – weil
       natürlich der Blick aus den Ländern des Globalen Südens paradiesisch ist in
       Bezug auf das, was hier möglich ist. Aber dass sie nicht zu denen gehören,
       die sofort dieses „Paradies“ nutzen können und dass auch nicht alle Leute
       hier das tun, ist ein Schock. Hinzu kommt der Anspruch der Familie, die
       denkt: Du kannst jede Woche ein bisschen Geld schicken, weil du ja in
       Deutschland bist.
       
       Die totale Überforderung. 
       
       Ja, und das alles, während man Klausuren schreiben muss wie alle anderen.
       Trotzdem schaffen es viele, und deutsche Arbeitgeber wären gut beraten,
       solche hoch motivierten jungen Leute einzustellen.
       
       Kamen nur christliche Studenten in Ihre Beratung? 
       
       Nein. Bei mir waren auch viele muslimische Studenten aus arabischen
       Ländern. Da war die Erwartung an fromm-seelsorgerliche Beratung manchmal
       größer als bei Einheimischen oder christlichen Studenten.
       
       Muslime erwarten von einem Pastor „fromme“ Beratung? 
       
       Ja. Sie wollten natürlich nicht über Jesus Christus sprechen. Aber in der
       Fremde, wo als einzige Heimatbindung die Identität als Gläubiger bleibt,
       fühlt man sich jemandem, der auch an eine höhere Macht glaubt, die uns
       trägt, durchaus verbunden. Auf dieser Ebene konnten wir uns verständigen.
       
       Warum haben Sie das alles aufgegeben, um nach Hamburg zu kommen? 
       
       Weil ich meinen Fokus stärker auf Supervision, Seelsorge und Analyse legen
       möchte und mich dahin gehend weitergebildet habe. Als dann die Leitung
       de[3][s Beratungs- und Seelsorgezentrums an St. Petri] ausgeschrieben
       wurde, war das ideal.
       
       Sie haben mitten in der Corona-Krise angefangen. Wie verlief der Start? 
       
       Spannend. Anders als meine Kollegen erlebe ich die Arbeit unter
       Coronabedingungen ja als Normalzustand. Alles war nur eingeschränkt
       möglich, die Organisation über Zoom, Gottesdienste in Mini-Besetzung,
       Seelsorge nur telefonisch...
       
       Ging es da meist um Corona? 
       
       Nein. Es ging generell um – derzeit vielleicht verstärkte – Lebenskrisen,
       Einsamkeit, Familien- und Paarkonflikte, um Krankheit oder Jobverlust.
       
       Das Beratungszentrum an [4][St. Petri] besteht seit 50 Jahren und ist das
       größte in Deutschland. Wie ist es entstanden? 
       
       Angefangen hat es in den „wilden 1970ern“, als Pfarrer erkannten, dass es
       Seelsorge jenseits des klassischen Modells – man kommt zum Pfarrer, und es
       gibt ein Gespräch, das auch ein bisschen fromm ist – geben kann. Da haben
       die ersten Pfarrer eine therapeutische Zusatzausbildung gemacht. Auch unser
       Zentrum hat viele Debatten durchlebt: Wie weit will man sich
       professionalisieren, welche Ausbildung brauchen Ehrenamtler, wer darf
       beraten? Inzwischen haben wir neben der offenen Beratung Fachberater mit
       systemischer, analytischer, tiefenpsychologischer, gestalttherapeutischer
       Ausbildung, die wir auf Wunsch vermitteln. Das kostet dann auch etwas.
       
       Aber die offene Beratung darf man nur einmal nutzen? 
       
       So ist es gedacht: Man kommt und erhält sofort die Möglichkeit, eine Stunde
       mit jemandem zu sprechen. Folgetermine werden nicht vereinbart. Man kann
       zwar jederzeit wiederkommen, und tatsächlich erscheinen einige täglich,
       weil es ihrem Leben Struktur gibt. Das ist aber nicht unser Hauptziel und
       kann für die Berater sehr belastend sein. Da muss man schauen, ob das
       Format „Beratung“ das Richtige ist, oder ob derjenige eher Gemeinschaft
       sucht.
       
       Welche Berufe haben Ihre 150 Ehrenamtlichen? 
       
       Das reicht von Verwaltungsangestellten über Ladeninhaber bis zu
       Innenarchitekten, Anwälten und Steuerfachbeamten. Dazu kommen viele
       Ruheständler.
       
       Und wer sind die Klienten? 
       
       Neben dem Laufpublikum – darunter auch Geflüchtete – kommen teils Menschen
       aus hohen gesellschaftlichen Positionen. Die kommen allerdings nicht an die
       Tür, sondern kontaktieren uns diskret.
       
       Ab 2. Juni 2020 öffnet die persönliche Beratung im BSZ St. Petri wieder.
       Informationen: [5][www.bsz-hamburg.de]
       
       2 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Telefonseelsorgerin-ueber-Corona-Folgen/!5679123
   DIR [2] http://www.esg-kassel.de/
   DIR [3] https://www.bsz-hamburg.de/
   DIR [4] https://www.sankt-petri.de/
   DIR [5] https://www.bsz-hamburg.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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