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       # taz.de -- Die Wahrheit: Rufmord an den Abstaubern
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (98): Diebische Tiere
       > gibt es nur, wenn es auch Eigentum gibt. Elstern sind also unschuldig.
       
   IMG Bild: Wer hat die Kokosnuss geklaut? Die Elster war's nicht
       
       Hier liegt ein Missverständnis vor: Diebstahl gibt es nur, wenn es Eigentum
       gibt, also eigentlich nur im kapitalistischen Denken. Die meisten indigenen
       Völker, die man auch primitive Völker nennt, weil sie keinen oder nur einen
       rudimentären Eigentumsbegriff haben, nehmen sich einfach, was sie brauchen
       – ohne es sich anzueignen, es gehört weiterhin allen.
       
       Das war fast immer der Konflikt zwischen den eigentumsversessenen
       englischen Weltumseglern, Inseleroberern und den Südseevölkern: Zwischen
       ihnen herrschte anfänglich Friede, Freude, Neugier, aber wenn dann so ein
       Primitiver den Engländern irgendetwas „stahl“, wurde er von ihnen
       erschossen, mindestens ausgepeitscht, woraufhin es zu offenen
       Feindseligkeiten kam. Der berühmte Entdecker James Cook starb auf diese
       Weise.
       
       „Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein
       Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben – besitzen“, schrieb
       Karl Marx. Die Bourgeoisie hat dabei eine völlige Umkehrung durchgesetzt.
       Der Frühsozialist Proudhon erinnerte sie daran: „Eigentum ist Diebstahl“,
       weil sie sich ursprüngliches Gemeineigentum (Wälder, Weiden, Bodenschätze,
       Inseln etc.) aneignete, um daraus privaten Profit zu schlagen. Und dieser
       Prozess hält bis heute an. Die Bourgeoisie ist unersättlich und
       unverbesserlich – erinnert sei nur an die jüngste Privatisierung des
       Wassers durch den Nestlé-Konzern. Gleichzeitig halten sie ihre
       Klassenjustiz an, auch noch den Diebstahl von zum Beispiel des Pfands von
       fünf Flaschen durch eine Supermarktkassiererin aufs Schärfste zu
       verurteilen.
       
       Diese Umkehrung geht so weit, dass sogar Tiere, die sich irgendetwas
       aneignen, was jemand „besitzt“, des Diebstahls bezichtigt werden. So meinte
       kürzlich beispielsweise der Chef des Nationalparks auf den Weihnachtsinseln
       Rob Muller, der große Landkrebs Birgus latro sei für seine „kleptomanischen
       Züge bekannt“, weswegen er auch „Palmendieb“ beziehungsweise
       „Kokosnussräuber“ genannt werde.
       
       ## Handy gegen zehn Bananen
       
       Das ist schon mal kapitalistisch verdreht, denn damit wird gesagt, dass
       alle Kokosnüsse den Menschen gehören und der Krebs sie ihnen stiehlt. In
       diesem Fall kam noch strafverschärfend hinzu, dass einer der Krebse auf der
       Insel einer Biologin, die dort Flughunde erforschte, eine 6.000 Dollar
       teure Kamera geklaut hatte (Die Wahrheit [1][berichtete] am 12. 3. 2020).
       Anders als bei vielen Affen, mit denen man verhandeln kann (ein von ihnen
       „geklautes“ Handy gegen zehn Bananen oder so ähnlich), verschwand der
       Riesenkrebs mit der Kamera.
       
       Als Meisterdiebe unter den Tieren gelten gemeinhin die Elstern, die
       angeblich gern was verschleppen. Die „Sachlage“ liegt auch hier bei den
       Menschen und wie sie mit solchen „Diebstählen“ umgehen. In der Mongolei
       etwa gesellen sich die Elstern paarweise den Jurten der Hirtennomaden zu.
       Diese erwarten das geradezu von ihnen. Auch dass sie gelegentlich
       glänzendes Fremdeigentum, Löffel oder ähnliches stehlen, nimmt man ihnen
       nicht übel, denn man weiß, in welchem der wenigen Bäume das Elsternpaar
       brütet und von dort holt man sich das Verschleppte einfach zurück.
       
       Die westlichen Wissenschaftler streiten derweil noch darüber, ob Elstern
       überhaupt von glitzernden Dingen beeindruckt werden. Auf wissenschaft.de
       heißt es: „Britische Forscher haben im Experiment getestet, wie begehrt
       glänzende Objekte bei den Elstern wirklich sind. Das Ergebnis: Die
       Rabenvögel dachten meist gar nicht daran, diese Dinge zu stehlen – ganz im
       Gegenteil. Sie mieden sie sogar und zeigten Misstrauen gegenüber den ihnen
       unbekannten Objekten. Nach Ansicht der Forscher sind die Elstern nicht
       Täter, sondern eher Opfer – eines Rufmords. Gemeint ist damit der Begriff
       „diebische Elster“, der es sogar in den Titel einer Oper von Rossini
       geschafft hat: „[2][La gazza ladra]“.
       
       ## Ein wahrer Meisterdieb
       
       Laut einer englischen Studie der Rabenvogelforscher Nathan Emery und Nicola
       Clayton ist jedoch ein naher Verwandter der Elster, der nordamerikanische
       Buschblauhäher, ein wahrer „Meisterdieb“, gleichzeitig ist er auch ein
       Meister im Verstecken. Die „diebischen Vögel“ verstecken ihre eigenen
       Futtervorräte sorgfältiger als Artgenossen „ohne Erfahrung im Stehlen“, wie
       die beiden Forscher in der Zeitschrift Nature berichteten. Der Spiegel
       fasste zusammen: „Kriminelle Vögel sind misstrauischer: Wenn Buschblauhäher
       einmal gestohlen haben, trauen sie auch Artgenossen Böses zu.“
       
       Diese kapitalistisch denkenden Anthropozentriker gehen also davon aus:
       Diebstahl ist Diebstahl – egal ob unter Menschen oder Buschblauhähern, und
       Diebe sind „böse“, man muss sich vor ihnen schützen. Auch alle „primitiven
       Völker“ sind derart „böse“ – man muss ihnen Achtung vor dem Privateigentum
       beibringen, notfalls einbläuen, bei Buschblauhähern geht das nicht.
       
       Alle sind gleich böse. Die Naturwissenschaftler und ihr
       Wissenschaftsjournalismus haben kein Wissen von Gesellschaft, weswegen sie
       zum Beispiel gern statt von (menschlicher) Geschichte von „Evolution“ reden
       – und im Falle von „bösen“ Tieren und Menschen vulgärmaterialistisch von
       einem Gendefekt oder einem Kleptomanie-Gen ausgehen.
       
       ## Valproat ist besser
       
       So berichtete der Spiegel 2002: „US-Forscher fahnden nach Kleptomanen für
       eine medikamentöse Studie.“ 2013 meldete das Magazin: Bei einem
       kleptomanischen Mädchen entdeckten die Forscher: „In ihrem Genom findet
       sich ein Fehler: Ein Abschnitt wurde verdoppelt.“ Die US-Genetiker, die man
       eigentlich aus dem Verkehr ziehen müsste, setzten auch „Wirkstoffe“ gegen
       diese „Störung“ (der allgemeinen Ordnung) ein: „Lithium und Valproat, die
       sie außerdem an Mäusen testeten. Lithium änderte das Verhalten der Tiere
       nicht, Valproat dagegen schon. Die Mäuse wurden ruhiger, die Zahl der
       [kleptomanischen] Anfälle ging zurück.“
       
       Auf dem Internetforum [3][kampfschmuser.de], das nichts mit Weinstein,
       Epstein, Strauss-Kahn oder Dutroux zu tun hat, sondern mit den „wahren
       Hundefreunden“, waren kürzlich die „Diebischen Tiere“ Thema. Auch hier
       gingen alle Beiträger davon aus, dass Tiere frech „fremdes Eigentum“ nicht
       respektieren:
       
       „Choboo klaut Toilettenpapier-Rollen – volle und leere! Muss also immer
       meine Badezimmertüre zumachen, sonst finde ich Klopapierstücke im ganzen
       Haus verteilt!“
       
       ## Rassetypisch? Ein Fall für die Antifa!
       
       „Lotte klaut mit Vorliebe Schuhe und gibt sie erst wieder her gegen ein
       kleines Leckerchen. Wenn Lotte meint, es wäre mal wieder an der Zeit, ein
       Leckerchen abzustauben, wird in allen Zimmern nach klaubaren Dingen
       gesucht.“
       
       „Unsere Fussel klaut alles, was nicht niet- und nagelfest ist und auf
       Tischen, Schränken etc. rumliegt. Soll aber rassetypisch sein. Eine
       Vorliebe hat sie für Feuerzeuge.“
       
       „Kira hat heute den Schrank aufgemacht und eine Packung Dolomin gegen
       Migräne rausgeholt, zum Glück hat sie nur eine gefressen.“ Vermutlich gegen
       die Kopfschmerzen des Kapitalismus.
       
       2 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Archiv-Suche/!5667468&s=flughunde&SuchRahmen=Print/
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=CJiiBq8UnIY
   DIR [3] https://kampfschmuser.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
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