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       # taz.de -- Neuer afroamerikanischer Comic: Die Wellenspringer schlagen zurück
       
       > Der schwarze Atlantis-Mythos von Drexciya träumt sich aus der Sklaverei
       > in ein Science-Fiction-Abenteuer. Jetzt erschien ein prachtvoller Comic.
       
   IMG Bild: Schwarze Superhelden: der Mutanten-Wissenschaftler Dr. Blowfin (Ausschnitt)
       
       Fiktionen erlauben es, eine Geschichte so zu drehen, dass fatale Ereignisse
       einen anderen Ausgang nehmen als in Wirklichkeit. Besonders fantasievoll
       ist dies Drexciya gelungen, einem Elektronik-Duo aus Detroit, das 1989 von
       Gerald Donald und James Stinson gegründet wurde und bis 2002 bestand, als
       Stinson einem Herzinfarkt erlag. [1][Drexciya inszenierten sich als
       Erforscher] einer bizarren Unterwasserwelt, um dort Belege für
       Menschlichkeit zu finden, weil es an Land Mangel an Zivilisation gab.
       
       Kommuniziert haben die beiden afroamerikanischen Produzenten ausschließlich
       durch ihre instrumentale Musik: Ein mit allen Raffinessen zwischen Funk,
       Electro und Bionic-Boogie ausgestatteter [2][spielerischer
       Techno-Hybridsound], kreiert mit Drummaschine, Sequenzer und zwei
       Synthesizern. Fast alle Tracktitel von Drexciya haben Bezug zum Ozean,
       alles fließt. „Netpun’s Lair“, „Oxyplasmic Gyration Beam“, „Triangular
       Hydrogen Strain“. Im Zusammenspiel von Betitelung, Inszenierung, und
       Coverkunst erzeugt die futuristische Musik von Drexciya ihre Resonanz.
       
       Während der Sound in eine bessere Zukunft zeigt, in der Technologie dem
       Fortschritt dient, verweist der Projektname Drexciya auf ein besonders
       düsteres Kapitel der gewalttätigen Vergangenheit des Sklavenhandels.
       Schwangere wurden während der Überfahrt auf den Sklavenschiffen von
       Westafrika in die USA als „störende Fracht“ betrachtet und zu Tausenden
       über Bord geworfen, um Versicherungskosten zu sparen. In der überlieferten
       Sage kommen jene Babys der Schwangeren als kiemenatmende Zwischenwesen in
       einer Luftblase im Atlantik zur Welt und werden von Monstern großgezogen.
       
       Irgendwo in der Tiefsee blubbert etwas. Dort liegt [3][Drexciya, ein
       schwarzes Atlantis] am Grund des Ozeans, das als sicherer Ort dieses
       aquanautischen Lebens gilt: „Von da sind die Babys in den Golf von Mexiko
       geschwommen, den Mississippi hochgewandert, bis zu den Großen Seen nach
       Michigan“, so fabulierten Drexciya. „Wäre es möglich, dass Menschen unter
       Wasser atmen, so wie Föten in der Fruchtblase im Mutterbauch gedeihen?“,
       fragten die Musiker in den Linernotes ihres Albums „The Quest“, das 1997
       veröffentlicht wurde.
       
       In der Version des Detroiter Duos sind diese schwarzen Menschen nicht
       unterjocht und in Ketten verschleppt oder brutal ermordet worden, sie leben
       als Aliens in einem Gebiet, das halb sozial-realistisch gezeichnet, halb
       als Unterwasser-Versuchslabor dargestellt ist.
       
       ## Nachwirkungen der Sklaverei
       
       Was die 400-jährige Geschichte der Sklaverei für Nachwirkungen hat, wie
       verbreitet Rassismus und Benachteiligung auch im Alltag sind, lässt sich
       gegenwärtig an den landesweiten Unruhen nach der brutalen Festnahme und dem
       Erstickungstod von George Floyd in den USA ermessen. Drexciya träumten sich
       aus der unmenschlichen Gewalterfahrung der Sklaverei in ein
       SciFi-Abenteuer. Diesen Wandlungsmythos haben die beiden Musiker zeit ihres
       Bestehens nicht zu Ende formulieren können. Nun, bald 20 Jahre nach dem
       Ende ihres Projekts, wird diese Story mit anderen Mitteln weitererzählt.
       
       „The Book of Drexciya“ ist eine prachtvoll ausgestattete
       Comicstrip-Fortsetzungsgeschichte in Buchform geworden. Gezeichnet hat
       der Grafiker Abdul Qadim Haqq, der für Drexciya, aber auch für andere
       Detroiter KünstlerInnen Cover gestaltet hat. Getextet hat der japanische
       Anime-Designer und Drehbuchautor Dai Satō. Blaugrün schimmern die Fluten
       des Ozeans, Korallenriffe, Fische, Luftblasen steigen nach oben: „Die
       Schwestern der Tiefsee“ kümmern sich um die Drexciya-Babys. In sechs, teils
       nach Drexciya-Titeln wie „Neptun’s Lair“ benannten Kapiteln wird die
       Geschichte vom Heranwachsen der Babys zu Teenage-Warriors und sogenannten
       „Wave-Jumpers“, Unterwasserkriegern, aufgefädelt. Mit Rat und Tat steht
       ihnen der Mutanten-Wissenschaftler Dr. Blowfin zur Seite, dessen Konterfei
       an den berühmten Detroiter Funkateer [4][George Clinton] erinnert.
       
       ## Positive Rollenvorbilder
       
       Die Kapitel in „The Book of Drexciya“ sind kurzweilig und erinnern an
       klassische Comicstrips in Zeitungen. Angelehnt sind sie an die ungleich
       berühmteren Marvel-Superhelden-Geschichten. Allerdings steckt kein
       Großverlag, kein Franchise-Unternehmen hinter der Veröffentlichung, sie
       wurde durch Fundraising von Drexciya-Fans finanziert und wird vom Berliner
       Label Tresor in Europa vertrieben.
       
       In die Abenteuer unter Wasser sind Heldinnen und Helden verstrickt, sie
       bieten dem Bösen furchtlos die Stirn. Positive Rollenbilder werden in der
       afroamerikanischen Vorstellungswelt dringend gebraucht. Sie können das
       Vergangene nicht ungeschehen machen, lassen aber – wie es „The Book of
       Drexciya“ exemplarisch zeigt – auf eine gerechtere Zukunft hoffen.
       
       2 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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