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       # taz.de -- Kinderheime in Berlin: Die bessere Alternative
       
       > Heime haben ein mieses Image. Aber solche Schutzräume sind wichtig für
       > Kinder und Jugendliche mit familiären Problemen. Ein Beispiel aus Berlin.
       
   IMG Bild: Garten einer WG für Kinder der Gesellschaft für erzieherische Hilfen Berlin-Tempelhof
       
       Wenn Thorsten* von Familie spricht, dann meint er nicht die Mutter, mit der
       er die ersten sieben Jahre seines Lebens verbracht hat. Nicht den
       abwesenden Vater und auch nicht die Geschwister, zu denen er kaum Kontakt
       hat. Thorsten spricht von einer Einrichtung, die man landläufig als
       Kinderheim bezeichnet, von seiner Wohngruppe und vor allem von den drei
       jungen Frauen, die zwölf Jahre lang seine Bezugserzieherinnen waren und die
       ihm auch heute noch – ein Jahr nach seinem Auszug – Spaghetti bolognese
       kochen, über sein frisch gestochenes Tattoo schimpfen und mit ihm
       Weihnachten und Geburtstag feiern.
       
       Thorstens Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist auch ein Blick
       hinter das Stigma Kinderheim und hinter die Türen seines einstigen
       Zuhauses.
       
       Kinderheim – das klingt so anachronistisch. Nach Zeiten, in denen Kinder zu
       Kriegswaisen wurden oder Eltern so arm waren, dass sie ihre vielen Kinder
       nicht durchbrachten. Nach einer Vergangenheit, in der der Staat missliebige
       Eltern mit Kindesentzug bestrafte und renitente Jugendliche in
       Verwahranstalten steckte. Es klingt nach Missbrauchsskandalen: lange
       vergangenen wie den systematischen Kindeswohlverletzungen in
       DDR-Kinderheimen und sehr aktuellen wie den entwürdigenden Maßnahmen in den
       Brandenburger Haasenburg-Einrichtungen, die inzwischen schließen mussten.
       Wenn in den Medien über Kinderheime berichtet wird, dann in der Regel
       negativ.
       
       Wie aber funktioniert die gute und moderne Kinder- und Jugendhilfe? Sind
       wir nicht längst weg von stationären Einrichtungen? Sollten nicht Kinder
       mit so viel Unterstützung wie nötig zu Hause leben können und – wenn es
       denn gar nicht anders geht – dann doch wenigstens in Pflegefamilien ein
       Zuhause finden? Bedeutet ein Platz im Kinderheim nicht eine verlorene
       Zukunft mehr? Endstation Kinderheim?
       
       ## In der Coronazeit eskalieren Konflikte
       
       Die Coronazeit wirft ein Schlaglicht auf häusliche Gewalt, auf Gewalt gegen
       Kinder. Durch die Medien geht die Sorge, dass inmitten der Beschränkungen
       Familienkonflikte eskalieren – weil Entlastung durch externe Betreuung
       fehlt, weil Existenzängste Eltern belasten, weil Kontaktbeschränkungen eine
       explosive Enge erzeugen. Immer wieder müssen Jugendämter und
       Familienrichter entscheiden, dass Kinder nicht mehr zu Hause leben können,
       auch jetzt während der Coronapandemie.
       
       Nicht alle dieser Kinder und Jugendlichen können in eine Pflegefamilie.
       Manchmal ist das auch gar nicht sinnvoll. In Berlin lebten Anfang März rund
       8.500 Kinder und Jugendliche in 230 stationären Einrichtungen der Kinder-
       und Jugendhilfe. Für sie bedeuten die üble Verheißung, die über dem Begriff
       Kinderheim schwebt, die alten und die neuen Bilder ein teils lebenslanges
       Stigma.
       
       „Wenn wir in den Anfangsjahren zum Geburtstag eines unserer Kinder
       eingeladen haben, kam manchmal kein einziges Kind“, sagt Josefa Dangelat,
       die Leiterin der Einrichtung Kinder- und Jugendwohnen in Lichtenrade, in
       der Thorsten aufgewachsen ist. Viele sehen uns als die Resterampe der
       Jugendhilfe“, sagt Dangelat. Es liegt an solchen Vorurteilen, dass sie die
       Türen ihrer Einrichtung für Besucher*innen öffnet. Sie habe mit ihrem Team
       Schulen besucht, mit Lehrer*innen gesprochen, die Eltern eingeladen. „Alle
       einzeln.“
       
       Auch Familienrichter hat Dangelat durch die Einrichtung geführt. Richter,
       die immer wieder darauf beharrten, dass Kinder und Jugendliche auch in
       schwierigstem familiärem Umfeld verbleiben. Alles ist besser als ins Heim?
       „Sie müssen es sich einfach mal anschauen“, sagt Josefa Dangelat.
       
       Wir fahren weit in den Süden Berlins, in den äußersten Zipfel von
       Tempelhof-Schöneberg, nach Lichtenrade. In den Vorgärten der
       Einfamilienhaussiedlung sind die Magnolien verblüht, stattdessen blühen
       Flieder und Apfelbäume, Hirtentäschel steht an den Wegrändern. Ist es das
       grau geklinkerte Haus oder vielleicht das gelb getünchte? Das mit dem
       Holzanbau oder das mit dem Trampolin im Garten?
       
       Fünf Häuser hat die Gesellschaft für erzieherische Hilfen Berlin-Tempelhof,
       ein kleiner gemeinnütziger Träger, hier angemietet, fußläufig im Viertel
       verteilt. Sie fügen sich ein in die gleichförmige Verschiedenheit der
       Einfamilienhäuser und beherbergen derzeit 44 Kinder und Jugendliche in
       kleinen Gruppen.
       
       „Die meisten bezeichnen uns tatsächlich als Kinderheim“, sagt Leiterin
       Josefa Dangelat. In der Behördensprache heißt es stationäres Kinder- und
       Jugendwohnen. „Wir bevorzugen aber den Begriff Wohngruppen.“ WG – das
       gefalle auch den Kindern besser, sagt Dangelat.
       
       Josefa Dangelat ist noch jung, 34 Jahre gerade erst geworden, und hat doch
       schon einige Kinder großgezogen. Darunter auch Thorsten, einen ihrer ersten
       Schützlinge. Seit fast 12 Jahren, nahezu ihr ganzes Erwachsenenleben,
       arbeitet Dangelat hier in Lichtenrade. Die Frau mit dem langen braunen
       Haar, buntem Schal, den Strassohrringen und dem breiten Lächeln hat
       angefangen als Praktikantin, wurde dann Erzieherin, später pädagogische
       Koordinatorin, seit vergangenem Jahr ist sie die Leiterin der Einrichtung
       mit den fünf Einfamilienhäusern und drei Wohnungen.
       
       Nach der Ausbildung – „erst mal was Praktisches“ – hat Dangelat studiert
       und nebenbei weiter hier gearbeitet. „Ich fahre nach Hause“ – das sagte
       Josefa Dangelat zu dieser Zeit auch, wenn sie auf dem Weg zu ihrer
       Wohngruppe in Lichtenrade war.
       
       Von den Jugendämtern der Stadt bekommt ihre Einrichtung in normalen Zeiten
       eine Anfrage pro Woche. „Gerade sind es deutlich mehr, um die sieben“, sagt
       Dangelat. Das jüngste Kind, das sie im Auftrag des Jugendamts einziehen
       lassen sollten, war noch keine acht Monate alt. „Das mussten wir ablehnen,
       das können wir nicht leisten.“ Die meisten Neuzugänge sind um die vier
       Jahre alt. So wie das Mädchen, das nun mit einem Schnuffeltuch im Arm in
       der Tür eines der Häuser steht. „Das ist unsere Clearing-Stelle“, sagt
       Dangelat und meint damit die Gruppe für neu aufgenommene Kinder.
       
       ## Ankommen in der Clearing-Stelle
       
       Die Clearing-Stelle ist der Ort der Ungewissheit. Manche der Kinder, die
       hier ankommen, hat das Jugendamt direkt aus der Schule abgeholt oder aus
       verwahrlosten Wohnungen. „Clearing“ steht für Klärung, denn noch ist
       unklar, ob die Eltern sich dauerhaft oder nur zeitweise nicht kümmern
       können. Vielleicht sind sie im Krankenhaus, in der Psychiatrie oder im
       Gefängnis.
       
       Fünf Kinder zwischen 4 und 13 Jahren leben im Moment in der
       Clearing-Gruppe. In drei hellen Zimmern mit bunter Bettwäsche,
       Familienbildern an den Wänden und Bilderbüchern in den Regalen, mit Puzzles
       auf dem Boden und Barbies im Bett. Im Bad rotieren kleine Jeans in der
       Waschmaschine, auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Matheheft. „Kleiner,
       größer oder gleich“, die Seite ist aufgeschlagen und die Erzieherin erklärt
       einem siebenjährigen Mädchen mit dunklen Locken, wann die Dinge gleich und
       ungleich sind.
       
       Die ganz Kleinen spielen indes Verstecken. Die Vierjährige mit dem
       Schnuffeltuch hat sich das Knie gestoßen und weint. Die Erzieherin holt
       Wundspray und Pflaster, versorgt vorsichtig die äußerlich kaum sichtbare
       Schramme. Es ist genau die Erzieherin, die vor dreizehn Jahren auch
       Thorsten in Empfang nahm – mit einem Geschenk auf dem Bettchen. Daran
       erinnert sich Thorsten heute noch.
       
       Eines Tages sei er mit dem Taxi von zu Hause abgeholt und nach Lichtenrade
       gebracht worden. Nur den Rucksack mit seinem Gameboy hatte er dabei.
       Thorsten war da gerade mal sieben Jahre alt und hat quasi nicht gesprochen.
       „Ich habe die Welt nicht verstanden“, erinnert er sich bei einem Treffen in
       der Wohnung von Josefa Dangelat. Was genau in seinem ersten Zuhause, mit
       der alleinerziehenden Mutter, vorgefallen war: Thorsten weiß es nicht und
       will sich auch nicht erinnern. „Was ich sagen kann, ist, dass meine Mutter
       nicht gesund ist.“ Um den Jungen zu schützen, durfte sie ihn damals ein
       Jahr lang nicht sehen, nicht wissen, wo er war.
       
       „Wir wissen nie genau, was die Kinder alles erlebt haben“, sagt Dangelat.
       Manchmal erfahren es die Erzieher*innen nach und nach, manchmal nie. Manche
       Kinder lassen sich nicht duschen, sprechen wie Thorsten kein Wort. Es gibt
       Kinder, die ihr eigenes Erbrochenes essen mussten, die massive Gewalt oder
       die Last der Verantwortung für psychisch erkrankte Eltern verarbeiten
       müssen. Es sind Kinder aus akademischen und aus sogenannten bildungsfernen
       Haushalten, ohne und mit Migrationshintergrund. „Auch Kinder aus dem
       Menschenhandel hatten wir schon hier“, sagt Dangelat.
       
       Das Mädchen mit dem Schnuffeltuch, das zurzeit in der Clearing-Stelle lebt,
       hat aufgehört zu weinen und winkt mit den anderen zum Abschied. Die
       Siebenjährige mit den Matheaufgaben wird uns mit ihrem rosa Fahrrad noch
       ein Stück durch die Spielstraße der Siedlung begleiten.
       
       ## Ein festes Team pro WG
       
       Es gibt sie auch heute noch, die großen Einrichtungen mit vielen Kindern in
       einem Haus und einem Schild vor der Tür. Die zwei Frauen, die vor 17 Jahren
       das Kinder- und Jugendwohnen in Lichtenrade begründeten, „wollten das
       anders machen, familiärer“, erzählt Dangelat. Sie fanden ein
       Einfamilienhaus zur Miete, mit einer Gruppe von sechs Kindern ging es los.
       Dann kam noch ein Haus dazu und noch eins und weitere. Jedes gefundene Haus
       bedeutete einen Vermieter, der „uns eine Chance gab“. Und Nachbar*innen,
       „die wir von Anfang an mit eingebunden und überzeugt haben, dass wir gute
       Nachbarn sind“.
       
       „Gerade bei Kindern, bei denen noch regelmäßiger Kontakt zu den Eltern
       besteht, ist eine Einrichtung wie unsere manchmal die bessere Alternative
       zu Pflegeeltern“, sagt Dangelat. Zu jeder der fünf Intensivgruppen, in die
       die Kinder nach dem Clearing kommen und in denen sie rund um die Uhr
       betreut werden, gehört ein festes Team von mindestens vier Erzieherinnen
       und Erziehern. Da sei die Zusammenarbeit zwischen Eltern und neuem Zuhause
       oft leichter als in einer Pflegefamilie. „Wenn es mit einem der Erzieher
       nicht passt, sind noch drei andere da.“ Für die Eltern bedeutet das weniger
       Bedrohung, weniger Feindbild. Für das Kind bedeutet es weniger
       Loyalitätskonflikt und weniger Stress.
       
       Wir entfernen uns von dem Haus mit der Clearing-Gruppe, laufen durch die
       Spielstraße hindurch an einem Spielplatz vorbei, Anwohner grüßen. Das Haus,
       bei dem wir jetzt ankommen, liegt versteckt in zweiter Reihe. „Das ist
       unser Schmuckstück“, sagt Josefa Dangelat auf der kleinen Treppe zum
       Eingang.
       
       Die fünf Kinder, die im „Schmuckstück“ wohnen, sind schon keine mehr. Drei
       Mädchen, zwei Jungs – alle zwischen 13 und 14. Zwei Ältere sind gerade
       umgezogen in eine Jugendwohngruppe des Trägers, in der sie nur noch
       stundenweise betreut und begleitet werden. Die drei Mädchen sitzen am
       langen Esstisch aus dunklem Holz, lernen Französisch und Englisch. Auf dem
       Tisch stehen Wasser und Gebäck. Die Erzieherin sitzt am Kopfende und macht
       die Abrechnung.
       
       „Hier stimmt was nicht, es ist zu viel Geld in der Kasse“, stellt sie fest.
       „Hat noch jemand einen Bon in der Tasche?“ Die Mädchen verneinen. In der
       Ecke steht ein Klavier, über dem Kamin hängen Bilder von gemeinsamen
       Ausflügen. Einer der Jungen steckt den Kopf zur Terrassentür herein, er
       sucht in dem kleinen Garten nach Käfern für den
       Naturwissenschaftsunterricht. „In 20 Minuten ist Hofpause“, sagt die
       Erzieherin und grinst. Auch hier herrschen Homeschooling-Bedingungen.
       
       Im Obergeschoss die Jugendzimmer: Sportplakate an den Wänden, selbst
       gemalte Bilder auf dem Boden, ein Schminktisch an der Wand, Wäscheständer
       voller Klamotten. Jeder Jugendliche richtet sein Zimmer selbst ein. Und
       wäscht seine Wäsche eigenständig. In der Clearing-Gruppe, dort wo wir am
       Anfang die ganz Kleinen getroffen haben, bleiben die Neuankömmlinge bis zu
       fünf Monate. In einer festen Gruppe wie dieser hier verbringen sie dann
       häufig ihre restliche Kindheit und Teile ihrer Jugend. So wie Thorsten.
       
       „Das war dann mein Zuhause“, sagt der heute 20-Jährige. Das kleine Kind im
       Hintergrund sei er am Anfang gewesen. Er, der schlecht hörte und kaum
       sprach. Bloß nicht auffallen. Und dann sei das entstanden, was er heute als
       Familie bezeichnet: Zusammenhalt, Vertrauen, miteinander lachen, auch mal
       Mist machen und trotzdem gemeinsam positiv in die Zukunft schauen. „Ich
       wurde so respektiert, wie ich bin“ – von den anderen Kindern, von seinen
       Erzieher*innen. Aus dem stillen Jungen im Hintergrund wurde nach und nach
       der Aufgeschlossene und Hilfsbereite, der große Bruder, manchmal auch der
       Pausenclown.
       
       Wenn Thorsten anderen heute erzählt, dass er in einer Einrichtung groß
       geworden ist – „Heim klingt so negativ“ –, dann sagt er auch: „Ich will
       aber kein Mitleid, ich hatte es gut.“ Mit seiner Wohngruppe ist er in die
       Türkei, nach Schweden und Griechenland gereist. Dank einem Programm für
       Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen hat er fünf Jahre lang immer
       wieder die Ferien bei einer niederländischen Gastfamilie verbracht. „Mit
       denen habe ich heute noch Kontakt.“
       
       ## Muster durchbrechen
       
       Häuser mit Klavier, Kamin und eigenem Garten, einträchtiger Heimunterricht,
       Reisen ins Ausland – fast vergisst man, dass es sich um Menschen mit
       schwierigen Biografien handelt, die hier aufwachsen. „Das täuscht jetzt ein
       bisschen“, sagt Dangelat, als wir die Intensivgruppe wieder verlassen.
       Einfach seien ihre Schützlinge gewiss nicht. „Gerade in dieser Gruppe gab
       es gestern erst eine Prügelei.“
       
       Aber die betonte Familiarität in den Gruppen, die gutbürgerliche
       Ausstattung der Häuser, die intensive Begleitung der Kinder und
       Jugendlichen, sie ist Ausdruck des Glaubens, dass man den zerstörerischen
       Mustern der Eltern etwas anderes, ebenso Wirkungsstarkes entgegensetzen
       muss. „Die Muster durchbrechen“, sagt Dangelat. Das kostet auch Geld.
       
       „Wir gehören sicher nicht gerade zu den günstigen Einrichtungen“, sagt die
       Leiterin. Jeder Träger verhandelt mit dem Landesjugendamt seinen Kostensatz
       – je nach Ausstattung. Aber den Jugendämtern der Bezirke, die die
       Einrichtungen bezahlen, steht jedes Jahr nur ein bestimmtes Budget zur
       Verfügung. Im Zweifel bedeute das, so Dangelat: Entscheidung nach den
       Kosten und nicht nach dem Bedarf des Kindes. Ob Kinder und Jugendliche in
       gut ausgestattete und vergleichsweise teure Einrichtungen wie diese kommen,
       hängt auch von dem Bezirk ab, in dem sie leben. Einige Jugendämter, so
       erzählt es Josefa Dangelat, würden aufgrund des enormen Kostendrucks gar
       nicht mit ihrer Einrichtung zusammenarbeiten. Bei anderen seien sie dagegen
       dafür bekannt, dass viele ihrer Schützlinge Abitur machten. „Wir hören
       immer wieder, dass das für stationäre Einrichtungen sehr ungewöhnlich ist.“
       
       Als Thorsten kam, hat er nicht gesprochen – elf Jahre später hat er den
       Mittleren Schulabschluss geschafft, in diesem Jahr will er seine Ausbildung
       beenden. Er hat schon lange eine Freundin, träumt von einem „guten Job und
       einem guten Auto, irgendwann auch Familie“. Zu seiner Herkunftsfamilie hat
       er kaum Kontakt, er weiß sich zu schützen vor dem, was er „das Negative“
       nennt. „Aber verlassen fühle ich mich nicht, ich habe ja meine Wohngruppe.“
       Ob er sich fragt, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht nach
       Lichtenrade, in die Einfamilienhaussiedlung, zu Josefa Dangelat und den
       anderen gekommen wäre? „Nicht das, was ich heute bin“, sagt er schlicht.
       
       ## „Er hat es allen gezeigt“
       
       „Er hat es allen gezeigt, hat immer mitgezogen.“ Josefa Dangelat ist
       sichtbar stolz, ein Lebensweg wie der von Thorsten ist auch ihr Erfolg.
       Selbstverständlich ist er nicht. „Die Erzieher, die mit großen Utopien
       kommen, die alle retten wollen, die bleiben oft nicht lange.“ Denn immer
       gibt es auch die Kinder, bei denen es nicht gelingt, die großen
       Belastungen, die zerstörerischen Muster der Eltern zu überwinden. Bei denen
       sich die Geschichten von Sucht, Kriminalität und Beziehungsabbruch
       wiederholen. Kürzlich ist das Kind einer ehemaligen Bewohnerin eingezogen.
       Und einer ihrer Schützlinge hat, genau wie einst ihre Mutter, sehr früh ein
       Kind bekommen.
       
       „Gerade bei denen, die recht spät zu uns kommen“, sagt Dangelat, heiße
       pädagogischer Erfolg manchmal einfach, „dass sie als Erwachsene nicht auch
       im Gefängnis landen oder in der Psychiatrie“. Es gebe Kinder und
       Jugendliche, die sie weiterschicken müssen, weil „wir mit unseren Mitteln
       nicht weiterkommen und sie vielleicht woanders noch eine Chance haben“.
       
       Auf einem der kleinen Siedlungswege in Lichtenrade zeigt Josefa Dangelat
       noch einmal auf eines der versteckten Häuser. Es gibt eine Unsichtbarkeit,
       die sie hier wollen, in den Häuschen ohne Schilder am Eingang – um ihre
       Kinder vor dem Stigma Kinderheim zu schützen. Und es gibt eine fatale
       Unsichtbarkeit, bei der Einrichtungen wie diese genau hinter dem Stigma
       verschwinden. Auch jetzt in der Coronazeit.
       
       „Uns gibt es bei allen Danksagungen und Prämien nicht“, sagt Dangelat. Und
       auch nicht in den Überlegungen zu Quarantäne und Mitarbeiterschutz der
       Gesundheitsämter. Dabei seien die Anforderungen an die Erzieher*innen in
       stationären Kinder- und Jugendeinrichtungen besonders hoch: Die 44 Kinder
       und Jugendlichen in Lichtenrade sind noch immer die meisten Tage zu Hause
       statt in der Schule oder im Kindergarten. Bei sechs Kindern pro Gruppe sind
       die Erzieher*innen schnell nur noch mit Heimunterricht beschäftigt.
       
       Sie müssen aber auch die Eltern auffangen, die ihre Kinder zunächst nur
       noch per Videochat sehen konnten und selbst jetzt nur mit Abstand. Und die
       Kinder, die in diesen ersten Wochen „unheimlich viel Nähe brauchten“. Einem
       Vierjährigen, sagt Dangelat, „dem kann ich nicht erklären, was Corona ist,
       der sieht nur, dass Mama nicht wie sonst zweimal in der Woche kommt“.
       
       Die Erzieherin aus der Clearing-Gruppe arbeitet fast jeden Tag statt sonst
       an drei Tagen in der Woche, der Mann versorgt das eigene Kind. Die
       alleinerziehenden Mitarbeiterinnen hätten teils ihre Kinder mitgebracht,
       viele verzichteten auf angemeldeten Urlaub und Übertage. Auch die älteren
       kämen ohne Unterlass zum Dienst.
       
       Es ist ähnlich wie in anderen stationären Einrichtungen und doch anders:
       „Bei uns können keine Fremden übernehmen, wir arbeiten mit Kindern.“ Weil
       das so ist, in Coronazeiten wie auch sonst, „könnten wir nicht mal für
       unsere Belange streiken“, sagt Dangelat, die sich auch im Vorstand der
       Interessenvertretung der freien Kinder- und Jugendhilfeträger Berlins
       engagiert. Mit Blick auf die Sparzwänge der Nach-Corona-Zeit befürchtet
       sie, dass es sich bei ihnen, den Unsichtbaren, dann auch leichter kürzen
       lässt.
       
       ## Fehlende Anerkennung
       
       Doch trotz fehlender Anerkennung, trotz der Negativbilder, trotz der hohen
       Anforderungen: „Ich kann mir nichts anderes vorstellen“, sagt die
       Erzieherin der Clearing-Stelle. Auch wenn sich ein Feierabend um 12 mal bis
       16 Uhr hinziehen könne, weil man bei einem Konflikt nicht einfach „Ich geh
       dann mal“ ruft. „Unsere Arbeit muss man leben.“ Die Hälfte des Teams ist
       wie sie und Dangelat schon seit mindestens 10 Jahren dabei, „die haben
       gefälligst auch bis zur Rente zu bleiben“, Dangelat lacht. Und meint es
       doch ganz ernst: „Die Kinder haben doch schon so viele Beziehungsabbrüche
       erlebt.“
       
       So wie Thorsten haben all ihre einstigen Schützlinge ihre Handynummer.
       Thorsten ruft an, wenn er Rat braucht – zu seiner Beziehung, der
       Ausbildung, dem Umgang mit der Mutter. Dangelat war dabei, als er zum
       ersten Mal seinen Vater wiedersah, er besucht sie in ihrem Zuhause und sie
       ihn in seinem. Es ist eine Vermischung von Arbeit und Privatleben, bei der
       jeder seine eigene Grenze finden dürfe und müsse, sagt die Leiterin des
       Kinder- und Jugendwohnens in Lichtenrade. „Aber wenn ich zehn Jahre lang
       ein Kind erziehe, dann sage ich am Ende nicht: Tschüss und komm klar!“ Bei
       Josefa Dangelat klingt das ganz selbstverständlich.
       
       * Thorsten heißt eigentlich anders und hat sich diesen Namen ausgesucht, um
       seine Geschichte zu erzählen.
       
       29 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
       
       ## TAGS
       
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