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       # taz.de -- Streitschrift von Žižek über Corona: Kein New Age, please
       
       > Werden wir irgendwelche Lehren aus dieser Zeit ziehen? Für den
       > Philosophen Slavoj Žižek ist die Coronakrise eine neue Form von
       > Kommunismus.
       
   IMG Bild: Immer mehr Menschen in den USA sind durch Corona auf Lebensmittelspenden angewiesen
       
       Zeit zum Nachdenken, Chance für die Entschleunigung, bewusster leben.
       Während der Coronakrise verging kaum ein Tag, an dem nicht die [1][Chancen
       für einen anderen Lebensstil] beschworen wurden, den das Coronavirus –
       neben den Schrecklichkeiten – doch biete.
       
       Für derlei Ideen hat [2][Slavoj Žižek] wenig übrig. Am Schluss seiner
       jüngsten, gerade in den USA erschienenen Streitschrift verfällt der
       slowenische Philosoph in den Duktus eines Achtziger-Jahre-Altlinken, der
       die aufkommende Seuche der „Selbsterfahrung“ als Ablenkung von der harten
       Pflicht des Klassenkampfs geißelt.
       
       „Wir sollten“, dekretiert das Maschinengewehr der Philosophie, „keine Zeit
       mit spirituellen New-Age-Meditationen darüber verschwenden, dass uns die
       Krise dazu befähigen wird, uns darauf zu konzentrieren, um was es im Leben
       wirklich geht. Der wahre Kampf geht um die Frage, welche soziale Form die
       liberal-kapitalistische Welt-Ordnung ersetzen wird.“ Puh.
       
       Mit der geharnischten Rhetorik nimmt Žižek, Jahrgang 1949 und immer noch
       Philosophie-Professor in Ljubljana und London, die argumentative
       Shock-and-Awe-Strategie auf, mit der er schon in seinen bisherigen
       Streitschriften zur (politischen) Lage gern sein Publikum gruselte.
       
       ## Nieder mit dem Kapitalismus!
       
       In seinem vor zwei Jahren erschienenen Rundumschlag „Der Mut der
       Hoffnungslosigkeit“ geißelte er den halbherzigen [3][Reformismus der
       Linken,] forderte den „deutlichen Bruch“ mit dem Kapitalismus und stritt
       dermaßen vehement für die Wiedererfindung des „bürokratischen Sozialismus“,
       dass man schon fürchten musste, er wolle den Genossen Breschnew mittels
       künstlicher Beatmung wieder zum Leben erwecken.
       
       Schwer zu sagen, ob es die Angst vor einer Krise ist, die nicht nur
       abstrakt oder, wie 2008, fernab an der Wallstreet droht, sondern selbst
       einem so unverwundbaren Denker wie Žižek gefährlich nahe auf den Leib
       rücken kann, dass aus dem schweren Geschütz Systemwechsel in seinem neuen
       Band eine Schreckschusspistole geworden ist.
       
       Zwar spricht sich Žižek darin – horribile dictu – für einen „neuen
       Kommunismus“ aus. Die Vokabel kommt in dem schmalen Band ungefähr so häufig
       vor wie das Wort Pandemie, von dem es seinen Titel hat. Er fällt aber
       hinter seine Forderung von 2018 zurück, dass die explosive Weltlage nur zu
       entschärfen sei, wenn es gelänge, „eine radikale Veränderung
       herbeizuführen, die über eine vage Vorstellung von gesellschaftlicher
       Solidarität weit hinausgeht“.
       
       Denn der Kommunismus, auf den er diesmal hinauswill, ist nicht viel mehr
       als eine „neue Form der Globalisierung, die wechselseitige Abhängigkeit und
       den Primat der evidenzbasierten, kollektiven Aktion“ anerkennt.
       
       ## „Der gefährlichste Philosoph des Westens“
       
       Die etwas abgehungerte Definition stammt nicht einmal von Žižek selbst. Der
       sonst vor Konzepten nur so sprühende Großdenker hat sie beim britischen
       Ökonomen Will Hutton von der London School of Economics geklaut. Sie könnte
       aber auch von der Bertelsmann-Stiftung stammen.
       
       Nicht dass das, was Žižek vorschlägt, obsolet wäre. Zumal die von ihm
       beschworene Gefahr des „Barbarismus“ gleichsam an jeder Hausecke lauert.
       Aber dieses Konzept ist etwas wenig für die „Neuerfindung“ einer großen
       Idee, für die sich [4][Karl Marx] immerhin die Mühe des „Kommunistischen
       Manifests“ gemacht hat.
       
       Hätte der SPD-Vorsitzende Norbert-Walter Borjans die Idee ventiliert, hätte
       es sofort geheißen: Typisch, die Sozialdemokratie traut sich keine
       Revolution mehr zu. Nun tritt „der gefährlichste Philosoph des Westens“
       (The New Review) in ihre Fußstapfen.
       
       Natürlich birgt die Krise die Keime einer Art erzwungener
       Vergesellschaftung. Žižek sieht sie in Boris Johnsons Idee der
       Nationalisierung der British Railways, in Donald Trumps Blankoschecks an
       die US-Arbeitslosen und Benjamin Netanjahus Angebot an die Palästinenser,
       Corona zusammen zu bekämpfen.
       
       ## Die WHO als Ersatz für das Proletariat
       
       Doch folgt man Žižeks Definition, dieser „Kriegs-Kommunismus“ (wie ihn die
       Sowjetunion 1918 unter widrigen Umständen improvisieren musste), der
       mittels einer „globalen Organisation, die die Wirtschaft ebenso regulieren
       und kontrollieren kann wie die Souveränität der Nationalstaaten“
       durchzusetzen, mutiert eine soziale Umwälzung zum etatistischen Kraftakt:
       Die WHO als Ersatz für das irgendwie verschwundene Proletariat. Die
       Gewerkschaften werden sich freuen.
       
       Žižeks Buch ist kein großer Wurf, sondern ein geistreicher Schnellschuss.
       In elf knappen Kapitelchen assoziiert er sich in Windeseile durch alle
       Weltprobleme, von der Bedrohung Europas durch die neue Herrschaftsform
       „Putogan“ bis zur „Wissenschaft als transkultureller Universalität“.
       
       Bösartig gesprochen ließe sich eine strukturelle Analogie zwischen Žižek
       und dem Virus behaupten. Der Philosoph beweist, dass er die Zeitläufte so
       schnell kommentieren kann, wie das Virus sein Erbgut vermehrt: Parasit der
       Zeitläufte der eine, des Stoffwechsels der andere.
       
       Aber wegen Binsenweisheiten wie der, dass Corona das „Fundament unseres
       Lebens erschüttert“ oder wir „alle in einem Boot“ sitzen, greifen wir nicht
       zu einem Denker, der, an Hegel, Lenin und Lacan geschult, wie kein anderer
       berufen wäre, den Weltgeist in einem einzigartigen Moment beim
       hermeneutischen Schopf zu fassen.
       
       ## Der Mensch – eine Spezies ohne Bedeutung
       
       Lesevergnügen bereitet natürlich trotzdem seine paradoxe Wort- und
       Gedankenakrobatik: Die MAD, die „Mutual Assured Destruction“ des Kalten
       Kriegs beispielsweise tauft er in die „Mutual Assured Distance“ um.
       
       Das Beste an dem flinken Text ist, dass er den Krisenmoment nicht zu einem
       scholastischen Glasperlenspiel nutzt oder ihn zur barocken Dystopie
       aufbauscht. Philosophisch gesehen bläst Žižek nämlich zur Entwarnung. Das
       Virus, schärft er uns ein, habe „keine höhere Bedeutung“ wie etwa die, die
       Menschheit für ihren schlechten Umgang mit der Erde zu strafen. Man könne
       diesen Fall biologischer Kontingenz in Gestalt einer durchgedrehten
       Kopiermaschine namens Covid höchstens als die Bestätigung von Friedrich
       Schellings „nie aufhebbaren Rest“ bei der Organisation des Lebens deuten.
       
       Tja – wenn die Menschheit wirklich nur eine „Spezies ohne besondere
       Bedeutung“ ist, die bei Launen der planetaren Evolution, wie wir sie gerade
       erdulden, auch über die Wupper gehen kann, gibt es wirklich keinen Grund,
       verschärft in sich zu gehen.
       
       2 Jun 2020
       
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